Eindrücke von der Gedenkveranstaltungzur Deportation von Erfurter Jüdinnen und Juden vor 70 Jahren
Heute vor 70 Jahren, am 09.05.1942 mussten sich 101 in Erfurt lebende jüdische Menschen am Erfurter Hauptbahnhof sammeln. 7:40 fuhr ihr Zug nach Weimar ab, wo sie in der Viehauktionshalle festgehalten und am folgenden Tag zusammen mit über 400 weiteren Jüdinnen und Juden in das Ghetto Belzyce deportiert wurden. Der Bahnhof sollte das letzte sein, was sie von Erfurt sehen. Keine/r der 101 Menschen kehrte zurück. Alle wurden von den Deutschen und ihren Kollaborateur_innen ermordet. Heute vor 70 Jahren begannen die Deportationen der Erfurter Jüdinnen und Juden, die noch bis Januar 1945 fortgeführt wurden.
Wer heute morgen gegen 6 Uhr durch den Erfurter Bahnhof ging, bekam einen Flyer zu diesem Ereignis in die Hand gedrückt. Diejenigen, die nicht in letzter Minute zum Zug rannten, haben eventuell auch die Durchsagen in der Bahnhofshalle gehört. Um 6 und 7 Uhr ging es ausnahmsweise nicht um einen verspäteten Zug oder unbeaufsichtigtes Gepäck. Heute morgen blieb es den Zugfahrer_innen am Erfurter Bahnhof nicht erspart sich ins Bewusstsein zu rufen, dass sie genau dort warten wo Menschen vor 70 Jahren in die Vernichtungslager deportiert wurden. Denn wer weiß schon von der leicht zu übersehenden Gedenktafel am Nebeneingang des Bahnhofs. Könnte sein, dass jetzt ein paar mehr Leute von denjenigen erfahren, die unter anderem von Erfurter_innen in den Tod getrieben wurden. Das Bild vom betroffen dreinschauenden OB Bausewein ziert wohl einige Zeitungen – immerhin verharrte er geduldig bis alle Aufnahmen im Kasten waren.
Nach der Kranzniederlegung vor der Gedenktafel konnte ich dem Gesang der jüdischen Kantorin Avitall Gerstetter leider kaum Aufmerksamkeit schenken. Irgendwie will es in meinem Kopf noch nicht ankommen, dass laut Flyer „Erfurterinnen und Erfurter“ ein Gedenken veranstalten, an dem Bausewein und sogar Udo Markewitz vom DB Bahnhofsmanagement Erfurt teilnehmen. „Gedenken verlangt Denken“, besagt der Flyer. Ist die Zahl 70 irgendwie besonders? Ich jedenfalls kann es mir nicht anders erklären, warum nach all dem Widerstand seitens der Bahn AG bei der Auseinandersetzung mit ihrer Vorgängerin und dem lange währenden Desinteresse der Stadt bezüglich Topf und Söhne plötzlich begonnen wurde nachzudenken.
Die Deutschen hätten die Verpflichtung nicht zu vergessen, erzählt Bausewein neben der Gedenktafel stehend. Und weiter: „Die geistigen Nachfolger derer, die diese Verbrechen angezettelt haben, dürfen nie wieder in Parlamente in Deutschland, Europa und der Welt gewählt werden.“ In aller Konsequenz dürfe es damit kein Parlament, kein Deutschland mehr geben. Aber als sich Neonazis am 1. Mai am Bahnhof versammelten, ließ er einigen Leuten über eine Mittlerin zukommen, dass sie aufhören sollen die Parole „Nie wieder Deutschland“ zu rufen — „Nie wieder NPD“, sei seiner Meinung nach angebrachter…
Irgendwie scheint es mit dem Denken wohl doch nicht so weit zu reichen – denn die deutsche Masse unterstützte die Vernichtung von Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und allen anderen, die in ihrer nationalsozialistischen Ideologie keinen Platz hatten, genau so wie wir heute rassistische und antisemitische Ressentiments in breiten Teilen der deutschen Bevölkerung finden — siehe Sarazzin…