Große und kraftvolle Haus-Demo in Erfurt

„Willkommen in der Medienstadt Erfurt“ konnte man denken, wenn man heute gegen 14 Uhr auf den Bahnhofsvorplatz kam. Nicht weniger als 6 Polizeikameras filmten jede Bewegung, während bei vielen der Teilnehmer_innen der Demo für ein selbstverwaltetes Zentrum die Personalien aufgenommen wurde. Vor allem bunte oder hochgestellte Haare waren der Garant dafür, wieder in irgend einer Datei zu landen. „Befehl von ganz oben“ meint ein Polizist aus Niedersachsen, der auch nicht weiß, was nach dem Einsatz mit den Daten geschieht.


Was Willi Brandt dazu gemeint hätte? Polizeifestspiele auf dem Erfurter Bahnhofsvorplatz

Das Bild ändert sich, als Pfarrer Lothar König aus Jena lautstark verkündet, daß jetzt die Veranstaltung begonnen hat und die BeamtInnen nichts mehr auf dem Platz verloren haben. Dieser moralischen Autorität kann sich auch die Polizei nicht wiedersetzen und zieht sich an den Rand des Willi-Brandt-Platz zurück. Die Stimmung ist gut.

Gegen 15 Uhr läuft die Demo los. Es sind viele Leute gekommen – wir zählen 100 Reihen und liegen mit unseren Schätzungen zwischen 800 und 1400 TeilnehmerInnen. Sonderlich viele Leute über 30 sind nicht dabei, die Mehrheit der Anwesenden ist jung und schwarz gekleidet. Es gibt nur wenige Transparente. Aber das ist eigentlich auch egal, weil man durch die einschließende Begleitung die Demo von der Seite her sowieso nicht sehen kann.


Die Spitze der Demo kurz vor dem Loslaufen

Die Demospitze ist sehr laut, es werden ständig Parolen gerufen. Viele BürgerInnen kriegen allerdings nicht mit, worum es geht: Ein älterer Herr meint, der Polizeieinsatz sei zu teuer und fragt sich, worum es geht. Ein junger Vater beim Eisessen sagt, daß ihm die Musik gefällt. Als er erfährt, daß es um ein soziales Zentrum geht, zeigt er Sympathie für das Anliegen, sagt aber gleich dazu, daß er Besetzungen ablehnt. Eine etwas ältere Dame erzählt, daß ihr Sohn früher auch bei den Hausbesetzern war. Sie hofft, daß sich die Polizei zurückhält — gerade durch ihre Erfahrungen in der DDR empfindet sie das aggressive Auftreten der Staatsgewalt als unangenehm. Trotzdem findet sie, man muss auch heute noch auf die Straße gehen und kündigt an, daß sie am ersten Mai auch gegen die Nazis demonstrieren wird. Eine vielleicht 30jährige fände gut, wenn es ein selbstverwaltetes Zentrum gäbe. „Dann würden die in der Stadt weniger Blödsinn machen“ sagt sie und zeigt auf die Demo.

An der Kaufmannskirche findet die erste Zwischenkundgebung statt. Die Antifa-Gruppe ag17 verließt einen kurzen Aufruf für den 1. Mai. Die queer-feministische Gruppe wi(e)derdienatur bittet die Polizei, bei der nächsten Räumung einfach zu klopfen und zu fragen, wo der Darkroom ist. Danach könnte es eigentlich weiter gehen, aber als die Demo sich in Bewegung setzt, kommt es zu ersten Rangeleien. Die Polizei blockiert die Demoroute. Nach einiger Zeit rückt sie mit der Begründung raus: Eines der drei Seitentransparente wird zu hoch getragen. Die DemonstrantInnen gucken sich ratlos um, die Einsatzkräfte starr geradeaus. Vermutlich wissen alle Beteiligten, daß es hier um Schikane geht und nicht um Tragehöhen. Aus dem Lautsprecherwagen werden Auflagen für die Polizei verlesen. „Es ist verboten, Zivilisten zu verprügeln, weil man dabei wie in Hamburg vor acht Jahren die eigenen KollegInnen erwischen könnte. Außerdem ist es nicht gestattet, die Demonstration willkürlich aufzuhalten.“ Und tatsächlich geht es dann auch weiter.


Gerangel am Erfurter Anger vor der Kaufmannskirche

Am Thüringenhaus kommt es zum nächsten Übergriff. Ein Teilnehmer wird aus der Demonstration herausgezogen und in einen Keller geschleift. Es heißt, er habe sich vermummt. Die Demo hält an, aus dem Lautsprecherwagen heißt es: „Wir gehen erst weiter, wenn unser Genosse freigelassen wird.“ Nach einer Weile geschieht das auch. Der Verschleppte blinzelt, als er wieder in die Sonne kommt. Aber er lächelt auch, als er wieder in der Demo aufgenommen wird. In Thüringen wird man zur Personalienfeststellung in den Keller gezerrt, aber dort wenigstens relativ gut behandelt.

In der Johannesstraße frage ich wieder ein paar Leute, was sie von der Demo halten. Ein Paar mit Kinderwagen meint, eine liberale und demokratische Gesellschaft könnte schon ein Haus zur Verfügung stellen — leer stünden ja nun genug in Erfurt. Ein Getränkehändler freut sich über den gesteigerten Absatz an Getränken und Schokorigeln, will sich aber inhaltlich nicht festlegen. Der Wirt der Johannesklause ist sich dagegen ganz sicher: „Klar, das ist prima. Ein selbstverwaltetes Zentrum muss es in Erfurt geben.“ Ein paar TouristInnen, von denen eine früher in Erfurt gelebt hat, fragen erst mal, worum es geht. Daß vor einem Jahr das ehemalige Topf&Söhne-Gelände geräumt wurde, haben sie mitbekommen. Daß es ein neues Zentrum geben soll, finden sie wichtig, über die Menge und das Auftreten der Polizei schütteln sie den Kopf: „Völlig unangemessen und viel zu teuer.“


Die Spitze der Demo auf dem Weg zum Domplatz

Auf dem Domplatz findet die nächste Zwischenkundgebung statt. Das Bildungskollektiv Biko spricht darüber, wie wichtig selbstverwaltete Räume für Bildung sind und eine Gruppe aus Dresden wirbt für die Libertären Tage, die dort vom 1.-8. Mai stattfinden. Ein verlesener Redebeitrag, der von einer Neubesetzung in Köln berichtet, wird von den DemonstrantInnen begeistert aufgenommen.

Eine alte Frau, die ich frage, was sie davon hält, zischt mich an: „Alle verrückt“. Ein paar modisch gekleidete Jugendliche wollen nicht mit mir reden. Eine Familie mit Kinderwagen ist sich dagegen einig, daß das Anliegen der Demonstration wichtig ist. Ein Pärchen um die 20 Jahre ist unentschlossen. Während er froh ist, daß die Polizei mögliche Gewalttäter in Schach hält, findet sie die vermummten und behelmten Beamten zu aggressiv: „Nur weil die Demonstranten Alternative sind, heißt das doch nicht, daß man nicht mit denen reden kann.“ Ein älterer Herr weiß von zahlreichen angebotenen Häusern, die die BesetzerInnen ausgeschlagen hätten — daher seien sie selbst Schuld, daß sie kein Zentrum hätten.


Der Erfurter Fischmarkt. Polizeiparade oder Demonstration?

In den engen Straßen der Altstadt sorgt die hohe Polizeipräsenz dafür, daß das Anliegen der Demo völlig untergeht. Der Fischmarkt steht mit Polizei voll, bevor auch nur die ersten DemonstrantInnen den Platz betreten können. Noch mehr als vorher gilt hier, daß die PassantInnen kaum mitbekommen, was das Thema der Demo ist. Ein 40jähriger, der aus einer Pizzeria heraus das Spektakel fotografiert, meint begeistert: „Immer weg mit den Nazis, es ist viel besser, wenn die Antifa demonstriert.“ Eine gut situierte ältere Dame weiß nicht, was los ist. Daß es um ein selbstverwaltetes Zentrum geht, nimmt sie zur Kenntnis. Ganz anders eine ebenfalls distinguierte, aber etwas jüngere Frau, die mit ihrer Tochter unterwegs ist: „Ich habe früher selber Häuser besetzt“. Sie erzählt begeistert von der Punk-Szene im Leipzig der 1980er-Jahre. Die aktuelle Auseinandersetzung in Erfurt kennt sie nicht, will sich aber weiter informieren. Ich frage eine Gruppe von Jugendlichen, die ich für TouristInnen halte. Sie sprechen wenig Deutsch und verstehen nicht, was ein selbstverwaltetes Zentrum sein soll — genau wie zwei junge Frauen eine Ecke weiter. Ein autonomes Zentrum ohne Drogen würden sie unterstützen. Als letztes spreche ich einen Rennradfahrer in vollem Gummidress an. Das Polizeiaufgebot hät er für verrückt. Gegen ein neues Besetztes Haus hätte er nichts – „damit die einen Ort haben, an dem sie machen können, ……. was auch immer die da machen. Das weiß ich nicht, aber es wäre OK, wenn sie einen Ort hätten“.

Am Ende drängt sich die Polizei nochmal in den Vordergrund und zieht einige Menschen gewaltsam aus der Demonstration. Die Vorwürfe sind Verstöße gegen das Versammlungsgesetz oder der Verdacht, einen Polizisten getreten zu haben. Wieder ist den meisten Beteiligten klar: Hier geht es um’s Ritual. Wenn die Hausbesetzer demonstrieren, muss die Polizei einfach eine gewisse Quote an Zugriffen vorweisen können. Die Menge auf dem Bahnhofsvorplatz lässt sich auf die Dominanzspielchen nicht ein und so beruhigt sich die Lage recht schnell.


Fight repression with a grove: Polonäse bei der Abschlusskundgebung

In den Stunden nach der Demo finden in der Stadt willkürliche Personenkontrollen statt. Auch das kennt man in Erfurt zur Genüge. Ein beachtlicher Teil der Erfurter Bevölkerung fände es trotzdem gut, wenn es ein neues soziokulturelles Zentrum gäbe. Besetzungen finden viele nicht gut — aber es ist beachtlich, wie viele BürgerInnen überhaupt kein Problem damit haben, daß leerstehende Häuser einfach genutzt werden. Kurz sieht es auch danach aus, daß am Spätnachmittag ein Haus am Schmidtstädter Knoten neu besetzt worden wäre. Aber dann stellt sich heraus, daß nur ein entprechendes Transparent an die Fassade gehängt wurde.


Gute Stimmung auf der Auftaktkundgebung


Ene, mene, miste — wenige Transparente, aber dafür kreative


Die Clownsarmy an der Spitze der Demo


Auch die EVAG weiß: Heute ist Demo in Erfurt


Drei Reihen Spalier an der Spitze