„Antifa heißt früh aufstehen“ – Erfurt 1. Mai 2010
„Antifa heißt früh aufstehen“ meint etwas verdrießlich einer der TeilnehmerInnen der Sitzblockade am Beginn der Stauffenbergallee. Denn obwohl man um halb neun noch problemlos von der Stadtmitte zum Blockadepunkt direkt am Anfang der Nazi-Route kommt, sitzen nur ca. 70 Leute quer über die Stauffenbergallee — ziemlich wenig für eine vierspurige Straße mit großzügigem Mittelstreifen. Eigentlich hatte man hier mit mehr Leuten gerechnet, aber scheinbar haben eine ganze Menge Leute ihr Date mit der Straße verpennt. Ein paar DemonstrantInnen spielen Karten, andere lesen Zeitung, während einige MandatsträgerInnen der Partei „Die Linke“ mit der Versammlungsbehörde aushandeln, daß die Blockade für’s erste nicht abgeräumt wird. Obwohl es regnet und hier keiner so recht davon ausgeht, mit 70 Leuten die Blockade zu halten, ist die Stimmung gut.
Am Anderen Ende der Stadt, in der Johannesstraße, sieht man um 9.00 Uhr eher griesgrämige Gesichter. Kaum 100 Menschen haben sich am Ort der Auftaktkundgebung für die Antifa-Demonstration unter dem Motto „Hauptsache ’s knallt“ versammelt. Aber bis die Demo um 9.30 Uhr losläuft wächst die Menge auf 300-400 Leute an. Luftlinie sind es nur wenige hundert Meter zwischen den parallel verlaufenden Routen von Antifa und Nazis, aber der aufgestaute Flutgraben trennt die beiden Versammlungen. Mittlerweile sind die Übergänge mit Hamburger Gittern und einfachen Polizeiketten dichtgemacht. An der Krämpferstraße gibt es dann auch den ersten Versuch einiger TeilnehmerInnen der Antifa-Demo, auf die Nazi-Route zu kommen. Aber 20 Leute sind für die Polizei kein Problem. Hin und wieder werden Parolen gerufen, dazu erzählt Lothar König viele Dinge aus dem Lautsprecherwagen. War die Demo am Anfang vorwiegend schwarz war, sammelt sie auf ihrem Weg Richtung Bahnhof immer mehr BürgerInnen ein, bis am Ende ein deutlich sichtbarer bunter Block mit den Autonomen demonstriert. Es knallt nicht. Etwas unübersichtlich wird die Lage, als die Demo gegen 11.30 versucht, zur ver.di-Kundgebung in der Tromsdorffstraße zu kommen. Obwohl ver.di laut durchsagt, daß die Antifa auf der Gewerkschafts-Kundgebung ausdrücklich erwünscht ist, stellt die Polizei sich quer. Nach kurzem Gerangel kommt es zu endlosen Verhandlungen — ohne Ergebnis. Ver.di und Antifa dürfen nicht zusammen demonstrieren. Da sich langsam die Gerüchte verdichten, daß die Nazis bald loslaufen, meldet die Antifa eine Spontandemonstration an und macht sich auf, die schon gelaufene Route wieder in der Gegenrichtung abzulaufen.
Seit 7 Uhr sendet das Radio der Thüringer Landesmedienanstalt (Radio Funkwerk) vorproduzierte Interviews. Steffen Lemme von der SPD verzettelt sich und nennt MOBIT die „Mobile Beratung für Demokratie – gegen Gewalt“ statt „.. gegen Rechtsextremismus“. Rüdiger Bender gibt den originellen Rat an Blockaden, einfach mal freiwillig zu gehen, statt sich räumen zu lassen.
Auf der Blockade am Beginn der Nazi-Route läuft bis 11 Uhr Musik aus der Konserve. Matthias Bärwolf von der Partei „Die Linke“ hebt mit kurzen Redebeiträgen die Stimmung und fordert die Leute zu Dableiben auf. Vereinzelte AnwohnerInnen haben sich eingefunden. Die meisten wollen sich zu der Frage, was sie von der ganzen Sache halten, nicht festlegen. Nur ein älterer Herr redet in aller Ausführlichkeit darüber, daß er Blockieren für undemokratisch hält. Er will die TeilnehmerInnen der Blockade überzeugen, zur NPD zu gehen und mit den Nazis zu diskutieren.
Gegen 12 Uhr taucht der Erfurter Oberbürgermeister Andreas Bausewein und die Bürgermeisterin Tamara Thierbach an der Blockade auf. Ungeschickter Weise nehmen sie den Weg durch die Nazi-Kundgebung und werden aus dem Lautsprecherwagen der NPD hämisch als KundgebungsteilnehmerInnen begrüßt. Das widerum bestätigt einige TeilnehmerInnen der Blockade in ihrer sowieso eher ablehnenden Haltung gegenüber der Stadtspitze. Als Bausewein nach einigem Händeschütteln den Ort der Blockade wieder verlässt, meint ein Teilnehmer: „Ich weiß nicht, ob es mich mehr ärgert, daß er wieder geht oder ob es mich mehr geärgert hätte, wenn er sich dazu gesetzt hätte“.
Ein paar Ecken weiter, am Leipziger Platz, beteiligt sich ein anderer Oberbürgermeister an einer Blockade: „Ich werde nächstes Mal dafür sorgen, daß noch mehr Bürgermeister da sind und Ihr werdet dafür sorgen, daß mehr Bürger da sind, denn gemeinsam sind wir stark“ sagt der Jenaer OB Albrecht Schröter. Viele sind begeistert von diesem Bündnis, andere rollen genervt die Augen. Der Lautsprecherwagen dankt den KundgebungsteilnehmerInnen immer wieder dafür, daß sie so bunt, friedlich und entschlossen sind.
Gegen 12:40 wird die Blockade am Beginn der Nazi-Route geräumt. Dabei geht die Polizei verhältnismäßig umsichtig vor. Es gibt keine Verletzten. Ganz anders muß das Vorgehen etwas früher am Talknoten gewesen sein. Eine Aktivistin erzählt mir, daß dort ein Bus mit anreisenden Nazis von vielleicht 50 GegendemonstrantInnen blockiert wurde und eine Polizeieinheit daraufhin „frei gedreht hat“. Die Blockade wurde ohne Vorwarnung brutal von der Straße geprügelt. (Bericht auf Indymedia hier)
Gegen 13 Uhr beginnt die Demonstration der Nazis. Sie rufen „Gegen System und Kapital – unser Kampf ist national“ oder, immer wieder, „Die Straße frei der Deutschen Jugend“. Die Nazis sehen aus, als seien sie zufrieden damit, daß sie endlich laufen dürfen. Aber schon 500 Meter weiter ist schon wieder Schluss, weil sie auf die Blockade am Leipziger Platz treffen. Hier haben sich neben dem Bündnis aus Oberbürgermeister und BürgerInnen auch ca. 200 Kapuzenpullis und Antifa-Fahnen auf der Stauffenbergallee eingefunden. Ein paar AnwohnerInnen beschweren sich über die Unannehmlichkeiten, die sie durch die Demonstrationen und Veranstaltungen haben. Ihnen wäre es lieber, wenn man die Nazis einfach laufen ließe: „Dann wäre der Spuk in einer Stunde vorbei“. Die Nazis nutzen die erzwungene Pause für Redebeiträge. Immer, wenn sich der nationale Lauti anhebt: „Deutsche Männer und Deutsche Frauen ..“ ruft die Kundgebung rythmisch „Halt die Fresse“. Da die beiden Versammlungen durch zwei Reihen Hamburger Gitter, zwei Wasserwerfer (einer in jede Richtung) und unzählige PolizistInnen getrennt sind, hört man das bei den Nazis vermutlich nicht. Aber auf der Kundgebung sorgen die Sprechchöre für gute Laune. Spätestens als nach und nach die TeilnehmerInnen der dahinterliegenden Blockade am Talknoten und die Reste der Antifa-Demo hier eintrudeln, vermuten viele: Hier kommen heute keine Nazis mehr durch.
Das dämmert auch dem nationalen Widerstand. Teile der Demonstration versuchen gegen 14 Uhr durch die Polizeiketten zu brechen. Das gelingt nicht. Aber damit hat die NPD in den folgenden Verhandlungen mit der Versammlungsbehörde schlechte Karten. Auch daß im weiteren Verlauf der Route mittlerweile nicht wenige Hamburger Gitter verschwunden sind oder auseinandergeschraubt wurden, wird die Chancen auf eine erfolgreiche Nazi-Demo eher verringert haben. Nach mehr als einer Stunde verkündet die Polizei das Ergebnis der Verhandlungen: Die Nazis müssen die 500 Meter, die sie vom Bahnhof gelaufen sind, zurücklaufen. Der Versammlungsleiter ist beleidigt und löst um 15.40 von sich aus die Versammlung auf. Er sagt durch, daß er keine Verantwortung für die folgenden Ereignisse übernimmt. Aber die angedeutete Drohung erweist sich als leer. Die VersammlungsteilnehmerInnen bewegen sich geordnet zurück zum Bahnhof. Kurz vor dem Ende versuchen sich einige wenige noch mit einer Sitzblockade, die aber auch nach wenigen Minuten wieder aufgegeben wird. Der Nationale Widerstand Franken und Bayern begibt sich fix zu den Reisebussen, die Thüringer Nazis zum Zug.
Ich spreche am Rande mit ein paar Leuten aus dem Antifa-Spektrum. Die sind nicht sonderlich zufrieden mit dem Tag, fanden alles „zu lasch“. Eine andere sagt, vieles sei heute schlecht koordiniert gewesen. Trotzdem hat einiges funktioniert.
Ganz am Ende muss dann einfach noch die rituelle Randale kommen — schließlich ist heute 1. Mai. Die letzten zehn Nazis brüllen in der Bahnhofsunterführung „Hier marschiert der nationale Widerstand“. Dann wird es unübersichtlich. Die zehn Nazis werden schnell in den Bahnhof geleitet. Gleichzeitig treibt die Polizei die ca. 150 anwesenden GegendemonstrantInnen auf der Bahnhofstraße zusammen — mit Pfefferspray und Knüppel frei. Brutal werden Leute in Gewahrsam genommen. Mindestens vier DemonstrantInnen werden verletzt.
Damit waren die nötigen Bilder im Kasten. Die Polizei zieht sich zurück. „Nach Ende der Neonazi-Demonstration kam es zu Ausschreitungen von Linksradikalen“ kann man jetzt sagen, und fordern, daß das Demonstrationsrecht endlich nicht mehr für Extremisten beider Seiten gilt.
Edit 2. Mai, Zitat vom MDR:
Thüringens Innenminister Peter Huber ist mit dem Polizeieinsatz am Sonnabend in Erfurt zufrieden. Die Versammlungsfreiheit sei gewahrt worden, sagte Huber. Gleichzeitig hätten die Bürger ihre Abneigung gegen jede Form von politischem Extremismus zum Ausdruck bringen können.
In Erfurt laut Stadtordnung verboten: Baumbesetzung am Leipziger Platz
Auf dem Anger: Verschiedene Stände
Hinter dem Leipziger Platz: Wasserwerfer
Am Ende: Gitter einpacken