Mittelbau Dora – Die Gegenwart der Vergangenheit

Ein Reisebericht der AG17 zum Besuch der KZ-Gedenkstätte Mittelbau Dora in Nordhausen:

„linksextremistischer“ Gedenkstättenbesuch
Es scheint ein staatsgefährdender Akt zu sein, eine KZ-Gedenkstätte besuchen zu wollen. Durch „Ankündigungen auf linksextremistischen Internetseiten“ fühlte sich das Ordnungsamt Nordhausen gemüßigt, im Vorfeld die Gedenkstättenleitung „Mittelbau Dora“ vor uns zu warnen. Die Gedenkstättenleitung reagierte jedoch auf eine mögliche „Gefährdung“ durch Antifas gelassen. Schon ab Erfurt wurde unsere Reisegruppe durch die Polizei „intensiv bestreift“ (Fachjargon der Polizei). Das gleiche geschah in Nordhausen und direkt am Museumsgebäude der Gedenkstätte lungerten Zivilpolizisten mit Teleobjektiven herum.

Der Rundgang
Besuch der KZ-Gedenkstätte in NordhausenZum eigentlichen Thema: Trotz des schlechten Wetters und des reichhaltigen Partyangebotes am Vorabend nahmen ca. 20 Leute an der Führung teil. Der Vortrag verschaffte einen Überblick über das KZ-System des Nationalsozialismus im allgemeinen und der Bedeutung des KZ-Mittelbau Dora im besonderen.
Unser Guide erklärte ausführlich die Ausmaße und Funktion des Konzentrationslagers. Mittelbau Dora war die unterirdische Produktionsstätte der sogenannten „Wunderwaffe“ V2 durch die SS, Ingenieuren wie Wernher von Braun sowie der Mittelwerk GmbH. Später produzierten dort auch Rüstungsfirmen wie Heinkel und Junkers. In einem kilometerlangen Stollensystem wurden die Raketen untertage von Häftlingen aber auch normalen Lohnarbeitern montiert. Hier wurden insgesamt 6000 V2-Raketen fertig gestellt, von denen die Hälfte die interne Qualitätsprüfung nicht bestand. Wiederum die Hälfte der ausgelieferten Raketen schaffte es nicht einmal beim Start abzuheben. Die „Deutsche Wertarbeit“ in Mittelbau Dora war der absolute Rohrkrepierer. Einen guten Überblick verschafft auch in diesem Falle Wikipedia.
Die Unterbringung der Häftlinge war zu Anfang in drei Seitenstollen eingerichtet. Zu tausenden hausten die Häftlinge in den Seitenröhren unter unmenschlichen hygienischen Bedingungen und Unterernährung. Die durchschnittliche Lebenserwartung betrug in Mittelbau Dora 4 – 6 Wochen. Die Leichen wurden einfach am Haupteingang abgelegt, falls sie überhaupt aus den verschimmelten morschen Kojen geholt wurden. Von 60 000 Häftlingen überlebten über 22 000 die Internierung nicht. Und das in der relativ kurzen Zeitspanne von Ende August 1943 bis zum 11. Aptil 1945. Den deutschen Ingenieuren war es egal und die SS hatte sowieso keine Probleme mit Nachschub an „Menschenmaterial“ aus anderen Konzentrationslagern. Wegen der hohen Opferzahlen musste auch Mittelbau Dora mit einem eigenen Krematorium ausgerüstet werden, dessen Öfen die Firma Kori aus Berlin lieferte. Erst seit den 80iger Jahren wird auch in Mittelbau Dora das Thema Zwangsprostitution in in den KZ thematisiert. Eine Gedenktafel weist auf den Ort des lagerinternen Bordells hin.
3% des Stollensystems sind im Rahmen des Rundgangs begehbar. Dieser Teil beinhaltet einen Teil der Hauptröhre mit den Seitenröhren der ehemaligen Unterbringungsstollen für Häftlinge. Allein die 3% zeigen die immense Dimension des Stollensystems an. Mittelbau Dora ist ein Beweis dafür, wie der Nationalsozialismus gnadenlos Menschen und Material für seine fordistische Kriegsmaschinerie opferte, ohne Rücksicht auf Verluste geschweige denn Pietät.

Von Mythen, Legenden, „Opfern“ und „Tätern“
Besuch der KZ-Gedenkstätte in NordhausenDas KZ Mittelbau Dora lag weder versteckt im Wald noch wurde sich Mühe gegeben, die unmenschlichen Haftbedingungen der Insassen zu vertuschen. Außenlager wie die Boelcke-Kaserne in Nordhausen und in Ellrich lagen mitten in Stadtgebieten. Die Bevölkerung beteiligte sich auch aktiv an der sogenannten „Hasenjagd“, dem Einfangen entflohener Sträflinge. Trotzdem will nach Kriegsende kaum jemand etwas gewusst haben. Ganz im Gegenteil wird in den Legenden die Opfer-Täterrolle gerne verdreht. So halten sich in Nordhausen hartnäckig die Mythen, dass die meisten Toten im Außenlager Boelcke-Kaserne auf einen britischen Luftangriff zurückzuführen seien und die amerikanische Armee den ehemaligen KZ-Häftlingen Nordhausen zur Plünderung freigegeben hätte.
Kürzlich tauchten jedoch aus Washingtoner Archiven Filmaufnahmen auf, die diese Mythen deutlich widerlegten. In der Boelcke-Kaserne fanden die amerikanischen Soldaten tatsächlich auf dem bombardierten Areal massenhaft Leichen vor. Die wenigsten zeigten jedoch Spuren äußerer Verletzungen und/oder Brandspuren. Die meisten Leichen waren völlig ausgedürrt und unterschiedlich stark verwest. Sie lagen dort also schon längere Zeit zwischen den (Noch-) Lebenden und Sterbenden. Das Außenlager Boelcke-Kaserne wurde von den KZ-Häftlingen als „lebendes Krematorium“ bezeichnet. Während in Mittelbau Dora alle lauffähigen KZ-Insassen kurz vor Kriegsende evakuiert und auf die „Todesmärsche“ geschickt wurden, hatte die SS die „Muselmänner“ (eine Bezeichnung für Häftlinge im apathischen Zustand des totalen körperlichen Verfalls und der Selbstaufgabe) in der Boelcke-Kaserne einfach sich selbst überlassen. Von jenen „Muselmännern“ zu behaupten, sie wären zum plündern auch nur fähig gewesen, ist grotesk. Das amerikanische Filmteam filmte dann auch Plünderungen – es plünderten die Nordhäuser selbst. Der Film zeigt die ganz normale Zivilbevölkerung, die unbekümmert und emsig ein Kaufhaus leerräumt. In einer weiteren Sequenz ist ein amerikanischer Soldat zu sehen, der völlig entnervt den vorbeiströmenden Massen das Plündergut wieder abnimmt und dabei mit seiner Dienstwaffe Schüsse in die Luft abgibt. Das ganze spielt sich gut erkennbar in Nordhausen in der Bahnhofstraße auf Höhe der Flussbrücke ab.
Als diese Zeitdokumente der interessierten Nordhäuser Öffentlichkeit gezeigt wurden, kam es zum Eklat. Ehrbare Bürger, vor allem älteren Semesters, reagierten wütend, schimpften und behaupteten, dass die Aufnahmen nicht echt seien und verließen unter Protest die Veranstaltung. Kollektive Halluzination über die eigene vermeintliche Opferrolle scheint es wohl nicht nur in Dresden zu geben, wo sich alljährlich am 13. Februar eine Stadt als „Opfer“ des 2.Weltkrieges abfeiert.
Eine weitere Form der „deutscher Vergangenheitsbewältigung“ etabliert sich laut unserem Guide auch verstärkt in den letzten Jahren: KZ’s werden von Rundgangsteilnehmenden immer häufiger vehement mit sowjetischen Gulags und dem US-Internierungslager Guantanamo auf Kuba gleichgesetzt. Mag es berechtigte Kritik an dem inkonsequenten Umgang der Alliierten mit z.B. den Deutschen Raketenspezialisten wie Wernher von Braun geben. Die immer häufiger auftretenden Relativierungsversuche machen deutlich, wie die deutsche Öffentlichkeit aus der Vergangenheit gelernt hat, nämlich die eigenen begangenen Gräuel anderen vorzuwerfen und als moralische Legitimation („wir haben ja draus gelernt!“) für sich zu nutzen. Das neue nationale Selbstbewusstsein macht es möglich.

Sich abseits gewöhnlicher Gedenkrituale mit diesem Teil deutscher Geschichte auseinanderzusetzen ist für uns allemal wichtig. Die Auseinandersetzung mit dem NS ist nicht das immergleiche Aufwärmen alter Geschichten sondern hat nach wie vor einen aktuellen Bezug auf die heutigen politischen Diskurse Deutschlands.

links:

Stiftung Mittelbau Dora
Wikipedia – KZ Mittelbau Dora
Wikipedia – KZ-Außenlager Boelcke-Kaserne