Zehn Jahre zwischen Letscho und Sterni

Am 31. Juli 2011 hat der letzte Bewohner die Schillerstraße 42 in Gera verlassen. Das Haus war über Jahre hinweg ein Treffpunkt der radikalen Linken in Thüringen und darüber hinaus. Aufs Engste mit dem Haus verbunden ist Thomas Panitz. Kaum jemand würde sein Gesicht auf der Straße erkennen, und durch gehörte er durch sein kontinuierliches Wirken im Hintergrund zu den schillernsten Gestalten der deutschsprachigen Linken. Seit dem vergangenen Sonntag gibt es den ersten Teil seiner Autobiographie im Infoladen-Buchbestand.

„Ich wurde zuerst aus der SED ausgeschlossen und dann aus der Jungen Gemeinde“ erzählt der 45jährige ehemalige Rotarmist sichtlich stolz. In den letzten Jahren des realexistierenden Sozialismus gehörte Panitz zu den überzeugten KommunistInnen, die sich mit dem autoritären Staat anlegen und versuchen, von Innen heraus eine Transformation anzustoßen. Das Scheitern seines Engagements wie auch das des Staates sieht er von heute aus als neuen Anfang. Der massive Verfall staatlicher Autorität machte es möglich, im Sommer 1989 die Schillerstraße 42 zu besetzen. Als sich der Eigentümer meldete, überzeugte Panitz ihn, das Haus gegen eine symbolische Miete der Bewegung zu überlassen. Über die folgenden zwei Jahrzehnte wirkte die Schillerstraße im braunen Gera als Leuchtturm der Emanzipation. Generationen von junge AktivistInnen erhielten ihre politische Sozialisation in der Küche des heruntergekommenen Hauses. Aber auch alte GenossInnen gaben sich die Klinke in die Hand, um zwischen billigem Bier, abgepackten Mischbrot und Letscho altgewohnte Überzeugungen zur Diskussion zu stellen. So diente die Küche in den ersten Jahren nach der Wende als Ideenschmiede für durch die Dynamik der Geschichte enttäuschte Linke. Jutta Ditfurth entschloss sich hier, aus den GRÜNEN auszutreten. Karl Held, Peter Decker und Theo Wentzke von der Marxistischen Gruppe (MG) suchten Rat. „Nach dem Zusammenbruch mussten die K-Gruppen einfach einsehen, dass vor einer Weiterführung der Praxis eine theoretische Anstrengung und eine Neuorientierung ansteht“ schreibt Panitz heute nüchtern – 1991 führten die Debatten zur Auflösung der MG. Viele Linke, Panitz eingeschlossen, orientierten sich aber eher autonom-anarchistisch.

Ab 1992 galt Panitz als inoffizieller Vorsitzender der Thüringer Autonomen. In dieser Zeit war sein vordringliches Ziel die überregionale Vernetzung antifaschistischer Kräfte. Der westliche Flügel der Bewegung war zu dieser Zeit in desolatem Zustand. Anders als in ostdeutschen Kleinstädten mussten sich AntifaschistInnen in vielen westdeutschen Regionen mangels Gegner vor allem theoretisch-abstrakt mit ihrem Gegenstand befassen. In Gera beschloss man daher, Praktikumsplätze im „wilden Osten“ zur Verfügung zu stellen. Die Abschlussprüfung bestand in einer Wanderung von Gera-Lusan nach Roschütz – eine Idee, die 2001 von der Antifaschistischen Wanderaktion (AWA) wieder aufgegriffen wurde. 1993 trugen die Vernetzungsversuche Früchte, als im Sommer als gemeinsames Projekt der Schillerstraße, der Göttinger Autonomen Antifa (M) und der Antifaschistischen Aktion Berlin die Antfaschistischen Aktion/Bundesweite Organisation (AA/BO) gegründet wurde. Mit einem Augenzwinkern beschreibt Panitz, wie die Idee für eine Bundesweite Organisation 1991 beim traditionellen Weihnachts-Puppenspiel in der Schillerstraße aufkam. „Der Arbeitstitel ‚BO‘ stand ursprünglich ironisch für Besserwisser und Oberlehrer. Im Mai mussten wir dann dringend einen richtigen Namen finden. Da wir uns an die Abkürzung so gewöhnt hatten, wurde es dann ‚Bundesweite Organisation‘. Das erklärt auch die Heiterkeit, die in ostdeutschen Städten aufkam, wenn von der AA/BO die Rede war“.

Sehr stark ist die Stadt Gera auch mit dem Erstarken der „Antideutschen“ verbunden. Mitte der 1990er Jahre war Sören Pünjer häufiger Gast in der Schillerstraße. „Da saß dieser Rastamann in der Küche und hat versucht, die Punker von Veganismus und Straight-Edge zu überzeugen. Viel zu lachen hatte er nicht, dafür die anderen um so mehr“ erinnert sich Panitz. An einem denkwürdigen Wochenende im Februar 1995 fand dann der Bundesparteitag der GRÜNEN in Gera statt, was einen weiteren illustren Gast in die Küche brachte: den von der Partei völlig frustrierten Justus Werthmüller. Pünjer und Werthmüller verstanden sich sofort. „Der letzte Kommunist bei den GRÜNEN und der einzige Veganer unter Suff-Punkern – das musste ja funken“, erinnert sich Panitz. Die Idee, in jedem Text vor der Veröffentlichung jedes „auch“, „aber“ und „möglicherweise“ zu streichen und durch Attribute wie „ohne Frage“ und „bedingungslos“ zu ersetzen, entstand an jenem Abend – Panitz hat es den beiden im Scherz vorgeschlagen.

Aber auch die große Politik suchte Rat und Beistand in der Küche der Schillerstraße. Dass Bodo Rammelow, Gabi Zimmer und Astrid Rothe-Beinlich Inspiration im einzigartigen Klima der Schillerstraße suchten, verwundert nicht. Aber dass auch Angela Merkel und Guido Westerwelle schon in der versifften Küche saßen – letzterer auf einem selbst mitgebrachten Klappstuhl – zeigt, wie groß der Einfluss des „Sternburg-Thinktanks“ (Joachim Gauck über die Schillerstraße) auf die politische Kultur der Bundesrepublik war.

Panitz Memoiren offerieren einen faszinierenden Blick auf die Binnendynamik der radikalen Linken der 1990er Jahre. Über die Ebene von Annekdoten hinaus reflektiert der „Lenin von der Elster“ (Slavoj Žižek über Thomas Panitz) Strategie und Taktik autonomer Politik der 1990er-Jahre. Für die linke Bewegungsgeschichte schließt die Biographie die Lücken, die „Autonome in Bewegung“ gelassen hat und ist damit von höchster Relevanz.

Thomas Panitz, Zehn Jahre zwischen Letscho und Sterni. 206 Seiten, 24 Seiten Bildteil. Freiburg 2012. Im Infoladen zu haben unter B102