Erfurt: Vertreibungspolitik in der Innenstadt
Während im Mittelmeer Menschen auf der Flucht ertrinken, haben die Erfurter wichtige Probleme: Auf dem Anger trinken Jugendliche Bier. Und sie nehmen dabei keine Rücksicht auf die finanziellen Interessen der BetreiberInnen von Außengastronomie. Das ruft natürlich Widerspruch hervor.
Zuerst waren es die Nazis. Eine rechte Facebook-Gruppe ereiferte sich über Punks, die es sich auf dem Anger mit selbst mitgebrachtem Bier gut gehen lassen. Jetzt treten die Gewerbetreibenden nach: Heinz-Jochen Spilker, Vorstands-Vorsitzender des City-Managements-Vereins und Thomas Nagelschmitz vom Kaufhaus Anger 1 möchten gerne festlegen, wer den öffentlichen Raum in Erfurt wie nutzen darf. Das Ziel des City-Management-Vereins ist, Erfurt als Stadt des Wohnens, Arbeitens, Einkaufens, der Freizeit und Kultur attraktiver zu machen. Die Frage ist aber, wie so oft, für wen. Junggesellenabschiede, Erlebnisgastronomie und penetrante Werbeveranstaltungen können gerne auf dem Anger auflaufen. Aber wehe, Menschen mit wenig Geld und abweichendem Wertesystem wagen es, einen schönen Platz für sich in Beschlag zu nehmen. Dann steht der Erfurter Spießer Seit an Seit mit den Nazis, um das arbeitsscheue Gesindel zu vertreiben und ruft nach dem starken Arm des Gesetztes, konkret nach einer rechtlichen Handhabe gegen herumlungernde Jugendliche. Laut einem Artikel in der TA hat sich die Stadtverwaltung noch nicht entschieden, wie sie auf die autoritären Wünsche der Gewerbetreibenden reagieren soll. Es bleibt ihr auch wenig übrig, nachdem das Alkoholverbot in der Innenstadt gerichtlich als „nicht anlass- sondern personenbezogen“ kassiert worden war. Auf dem Anger zeigt sich nun das Ergebnis von Verdrängungspolitik. Jahrelang hat man versucht, die Punks von der Krämerbrücke zu vertreiben. Die naive Phantasie der Technokraten und Sozialplaner war dabei wohl, dass sie sich in Luft auflösen oder nach Gotha ziehen würden, wenn die Krämer nur unattraktiv genug gestaltet wird. Aber wer an der einen Stelle vertrieben wird, taucht halt auf der anderen wieder auf, jetzt eben auf dem Anger. Und warum sollen eigentlich zwei reiche Männer, die für Kapitalinteressen sprechen, entscheiden dürfen, wer wo und wie seine Freizeit verbringt? Wieso soll die Innenstadt für Gewerbetreibende ein El Dorado sein, für Arme und Jugendliche dagegen nicht zugänglich? Gewerbetreibende nutzen steuerfinanzierte Infrastruktur, von den Straßen angefangen über die Vereinsräume des Citymanagement im Rathaus bis zur Müllentsorgung dessen, was die werte Kundschaft aus der Gastronomie im Erdgeschoss des Anger 1 rausträgt. Wieso soll es dann illegitim sein, wenn Punks den öffentlichen Raum nutzen?
Wenn Ihr das auch bescheuert findet, schreibt dem Erfurter Ordnungsdezernent Alexander Hilge an die Adresse dezernat03@erfurt.de. Kopie bitte an den Infoladen.
Zur Ergänzung ein Rückblick zu Vertreibungspolitik in Erfurt:
- Irgendwann 2003: Noch unter dem alten Oberbürgermeister Manfred Ruge (CDU) wird eine „Verordnung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ erlassen, durch eine peinliche Plakat-Kampagne beworben und durch Innenstadtinspektoren Verstöße geahndet.
- Juli 2008: Nazis überfallen Punks auf der Krämerbrücke, der jetzt SPD/PDL-regierte Stadtrat plant eine Verschärfung der Innenstadtordnung. Vor allem geht es um ein Alkoholverbot für „lagernde Personengruppen“. Im Kern der Auseinandersetzung steht der Konflikt zwischen Verwertung und Freizeit an der Krämerbrücke.
- August 2008: Proteste gegen Alkohoverbot nehmen zu und werden auf der Seite http://brausewein.blogsport.de gesammelt.
- September 2008: Der städtische Ausschuss für Sicherheit und Ordnung berät die Verschärfung und bringt zum Ausdruck, dass ihm die von der Vertreibungspolitik betroffenen BürgerInnen scheißegal sind. Der Stadtrat beschließt die Verordnung.
- Oktober 2009: Tag der Einheit der Menschen mit Innenstadtaktion
- April 2010: Auszubildende der Stadtverwaltung auf Häufchenkontrolle. Der Spitzname „Kackstadt“ für Erfurt verbreitet sich rasant.
- Juli 2012: Nach einer Klage eines 50-jähringen Betroffenen kippt das OVG Weimar das Alkoholverbot.
- Jedes Jahr gegen Vertreibungspolitik: Die Erfurter Punxboottour