„Gema, Acta, Kapital, Scheiße“ schallte heute lautstark durch die Erfurter Innenstadt, nachdem eine eher behäbige Demonstration der Piratenpartei durch die DemoteilnehmerInnen gekapert wurde. Es ging gegen das geplante ACTA-Abkommen, dass regeln soll, wie der bereits im Rahmen des TRIPS-Abkommen auf Ebene der Welthandelsorganisation WTO vereinbarte Schutz vor Produktpiraterie und Urheberrechtsverletzung durchgesetzt werden soll.
Als die Auftaktkundgebung um 15 Uhr auf dem Erfurter Anger beginnt, ist die Stimmung eher gemischt. Viele vor allem junge Leute sind gekommen, um ihren Unmut auf die Straße zu tragen — deutlich erkennbare Nerds mit T-Shirts von Online-Spielen, Punks, die sich vorausschauend einen Kasten Sterni mitgebracht haben, „ganz normale Jugendliche“, dazu das übliche Demo-Publikum aus verschiedenen Parteijugendverbänden und der linken Szene. Bei letzteren ist eine gewisse Zurückhaltung gegenüber den in Erfurt stark von der Piratenpartei dominierten Protesten zu spüren: „Eine gewisse Grundsolidarität habe ich, demonstriere aber ungern unter einer Piraten- oder einer Deutschland-Fahne“. Für letztere stellte sich bei genauerem Hingucken heraus, dass das Unbehagen nicht berechtigt ist: Die Fahne steckte in einem selbstgebauten Scheißhaufen, ebenso wie die Wörter „GEMA“, „Acta“ und „Capitalism“. Überhaupt gibt es viele einfallsreiche selbstgebaute Schilder und Gadgets, die zum Ausdruck bringen, dass es hier nicht nur darum geht, dass Kinox.to um seine Existenz bangt — aber eben auch, wie die Parole „Wir sind hier, wir sind laut, weil Ihr Mega-Upload klaut!“ zum Ausdruck bringt.
Die Redebeiträge sind wegen der zu klein dimensionierten Beschallungsanlage kaum verständlich, Flugblätter werden nur vereinzelt am Rande verteilt. Aber die Leute wissen auch so, warum sie da sind: „ACTA ist Scheiß-Überwachung“ sagt ein punkiger Teilnehmer, was sich wohl darauf bezieht, dass ACTA vorsieht, Internetprovider dazu zu verpflichten, den Datenverkehr ihrer NutzerInnen auf Urheberrechtsverstöße zu durchsuchen. „Ich bin gegen Eigentum, auch geistiges“ oder „Urheberrecht schränkt die Freiheit des Einzelnen ein, weil man sich Musik vor dem Kauf nicht anhören kann“ meinen andere und befürchten eine Zensur, wenn die freie Verbreitung von Informationen beschränkt wird. Heute wird nur die Verbreitung von Alkohol beschränkt – ein Ordner schickt einen Punk wegen seiner Bierflasche aus der Demo.
Ohne viel Aufregung zieht die Demo 800m vom Anger zur Abschlusskundgebung am Hirschgarten, wo wieder Redebeiträge durch eine viel zu kleine Anlage verlesen werden. Auf dem Platz vor der Staatskanzlei wird auch deutlich, dass wirklich viele gekommen sind – wir schätzen, dass an die 1000 Menschen versammelt sind.
An diese Stelle hätte die Geschichte enden können und wäre eine weitere langweilige Latschdemo gewesen. Aber die Leute sind wütender als erwartet und so formiert sich unmittelbar nach dem Ende der Kundgebung ein weiterer, nun unangemeldeter, Demozug, der deutlich lauter agiert. Mit „A-Anti-Antikapitalista“ und „Es muss ums ganze gehn“ zieht ein antikapitalistischer Block los, wobei diese Ausrichtung anscheinend so konsensfähig ist, dass der größte Teil der Demo mitzieht — sogar die Jungen Liberalen, die auf Nachfrage erklären, dass sie ja auch für weniger Regeln sind und den real existierenden Kapitalismus irgendwie kritisch sehen. Nur ein kleines Häufchen mit Piratenparteifahnen bleibt verunsichert auf dem Hirschgarten zurück. Weil die Polizei nur mit wenigen Kräften vor Ort ist, kann die Spontandemo noch eine Stunde lang kreuz und quer durch die Innenstadt ziehen.
Man mag fragen, ob es legitim ist, eine Demo gegen ein Anti-Piraterie-Abkommen so deutlich antikapitalistisch aufzuladen. Dass das Anliegen den weitaus größten Teil der DemonstrantInnen mitziehen konnte, spricht dafür. Außerdem geht es ja in der Tat ums Ganze, denn ACTA ist wie schon erwähnt nur ein Abkommen zur Durchführung dessen, was schon 1995 im TRIPS-Abkommen (Abkommen über Trade Related Intellectual Property Rights) auf WTO-Ebene gegen den erbitterten Widerstand der sogenannten „Anti-Globalisierungs-Bewegung“ beschlossen wurde. Wenn TRIPS nun durch ACTA konsequent durchgesetzt wird, bedeutet für Menschen in Industrienationen, dass sie bald nicht mehr den neuesten Blockbuster kostenlos herunterladen können. Für den größeren Teil der Menschheit sind die Folgen schon eingetreten und ungleich ernster. So schützt TRIPS beispielsweise die Interessen von Pharmakonzernen, indem es verbietet, preiswerte Kopien lebenswichtiger Medikamente herzustellen. Effekt ist, dass die Preise steigen und immer mehr Menschen in den Armutsregionen der Welt von grundlegender medizinischer Versorgung ausgeschlossen werden. Im Nahrungsmittelsektor ermöglicht TRIPS, dass KleinbäuerInnen untersagt wird, geerntetes Getreide zur Wiederaussaat zu verwenden, weil die Lizenzbedingungen nur eine einmalige Aussaat erlauben. Verlust der Nahrungsmittelsicherheit ist die Folge. TRIPS macht viele Menschen auf der Welt arm und krank. Dagegen „Alles für Alle“ zu fordern, ist mehr als legitim.
Ergänzung: Ein kleiner Bericht von der Demo findet sich im Telepolis-Forum hier.
Ergänzung: Schneller als die Feuerwehr ein Video von den Filmpiraten: