Emmely gewinnt Prozess gegen Kaiser’s

Vorweg: Barbara E., genannt Emmely hat heute die arbeitsrechtliche Auseinandersetzung mit Kaiser’s gewonnen.

Aber zurück an den Anfang: Rund 80 Personen versammelten sich am 10. Juni vor dem Bundesarbeitsgericht in Erfurt, um der entlassenen Kassiererin Emmely ihre Solidarität zu bekunden. Die Supermarktkette Kaiser’s hatte sie mit der Begründung gefeuert, sie habe Leergutbons im Werte von 1,30€ unterschlagen — nachdem sie den Streik in ihere Filliale massgeblich mitgetragen hatte.

Aber während 88% der Kündigungen einfach durchgehen, gab es hier Gegendruck. Emmely klagte. Das Komitee „Solidarität mit Emmely“ bildete sich aus Arbeiterinnen, GewerkschafterInnen und linken AktivistInnen und begann, Proteste zu organisieren — Proteste wie auch heute vor dem Prozess

Den Beginn der Kundgebung vor dem Bundesarbeitsgericht machte dann auch das Kommitte, indem es allen Anwesenden für die Solidarität dankte und einen Abriss über den bisheringen Prozessverlauf gab. Unterbrochen durch Musik von Atze Wellblech sprachen Menschen aus verschiedenen Gruppen aus ihrer Sicht zu der zwei Jahre dauernden Auseinandersetzung. Die Thüringer DGB-Landesvorsitzende Renate Licht betonte die Bedeutung, die der Fall für die vielen Beschäftigten im Einzelhandel habe, die quasi permanent unter der Drohung einer Verdachtskündigung arbeiteten.Der „Fall Emmely“ habe aber nicht zuletzt deshalb für Aufsehen gesorgt, weil angesichts der Banalität des Vorwurfs und der bereits gerichtlich bestätigten Kündigung das Rechtsempfinden verletzt sei und das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren ginge. Ein Kollege von Porsche berichtete über seinen eigenen Kampf gegen mehrere Kündigungen, den er letztlich gewann, weil in letzter Instanz zugunsten der freien Meinungsäußerung auch am Arbeitsplatz entschieden wurde. Undine Zachlot von ver.di-Erfurt dankte für die breite Solidarität mit der Kassiererin Emmely, aber auch den vielen Betriebsräten, die sich in dem Bereich engagieren. Sie erinnerte an den Versuch, nach dem Schwarzbuch-LIDL ein Weißbuch für den Einzelhandel zu erstellen und an die Unmöglichkeit angesichts der überall auftretenden Schikanen vor allem gegen Beschäftigte, die sich mit ihren schlechten Arbeitsbedingungen nicht abfinden wollen. Die Thüringer Gruppe Plan B betonte, dass es sich lohne zu kämpfen, der an diesem Tag verhandelte Fall aber bei weitem kein Einzelfall sei. Gegen zunehmend schlechtere Arbeitsbedingungen und sinkende Löhne setze man auf Solidarität und Gegendruck von unten, wie man es hierzulande nur aus der Ferne mit dem Blick nach Griechenland oder Spanien sehe. Eine Kollegin vom Bremer Mayday-Bündnis berichtete Modell der „Schlecker-XL“-Filialen, bei denen über Ausgründungen die Tarifbindung für die Beschäftigten aufgehoben wurde. Die Solidarisierungen mit den Betroffenen zeigten sich in mehreren Aktionen, wie Flashmobs und einem spontanen Stromausfall zur Eröffnung einer XL-Filiale. Gegen 11.30 beginnt der Prozess

Das Bundesarbeitsgericht ist an diesem Tag nicht wirklich öffentlich. Hinein kommt nur, wer sich ausweisen kann und noch eine „Einlasskarte“ bekommt. Die sind limitiert, damit der „Sitzungssaal II/III EO327/33“ nicht zu voll wird. Solange noch Platz ist, bedeutet das für die BesucherInnen Metalldetektoren, Sicherheitssperre, Durchleuchten der Taschen. Eine spezielle „sicherungspolizeiliche Verfügung“, nur für diesem besonderen Tag und „zu unser aller Sicherheit“, wie der vorsitzende Richter später ausführt. Von den geschätzten 25 Reihen Zuschauerplätze sind 5 für die Presse reserviert, die sich sofort auf Emmely stürzt. Obwohl im vorderen Teil noch Plätze frei sind, müssen viele DemonstrantInnen draußen bleiben: Es könnten ja noch PressevertreterInnen nachkommen, heißt es von einer Justizangestellten.

Drinnen wird klar, wer hier über wen urteilt. Ein Richter am Bundesarbeitsgericht bekommt runde 7000€ im Monat. Das sieht man auch. Die Robe, unter der ja eigentlich alle gleich aussehen sollen, verhüllt nicht, daß hier Leute mit goldenen Manschettenknöpfen über eine Frau urteilen, die aussieht wie die Kassiererin von nebenan – und im Moment vom Hartz4-Regelsatz von 359€ lebt. Gegenüber von Emmely und ihren zwei Anwälten sitzt Tobias Tuchlenksi, dezent gebräunt und mit Designerbrille, seine grauen Haaren nach hinten gegelt. Als Regionalmanager bei Kaiser’s bringt er wahrscheinlich mehr nach Hause als die RichterInnen. Anwaltlich vertreten wird die Firma Kaisers GmbH von Karin Schindler-Abbes. Ihre Kanzlei arbeitet nach eigenen Angaben eng mit einer Vielzahl von Unternehmen zusammen, um z.B. schon im Vorfeld von Kündigungen erfolgversprechende Strategien zu entwickeln.

Glaubt man Emmeley, dann war es auch eine Strategie, die überhaupt erst dazu geführt hat, daß sie vor Gericht ziehen musste. Sie ist wie viele UnterstützerInnen der Ansicht, daß der eigentliche Grund der Kündigung ihr gewerkschaftliches Engagement ist und nicht die Bons, die sie in Beisein ihrer direkten Vorgesetzten unrechtmäßig abgerechnet haben soll. Aber darum geht es heute nicht. Das Bundesarbeitsgericht entscheidet nicht über die Sache, sonden über ihre rechtliche Würdigung — was so viel bedeutet wie: In der Frage, was geschehen ist, verlässt man sich auf das Urteil des Landesarbeitsgericht, heute geht es nur darum, ob die Fakten juristisch korrekt bewertet wurden. „Es steht prozessural fest“, daß Emmely die Bons genommen hat, weil eben das Landesarbeitsgericht so entschieden hat.

Genau das betont der vorsitzende Richter Burghard Kreft auch in seinen einleitenden Worten, die wie die kopierten Gesetztestexte auf den Besuchersitzen wohl dem großen öffentlichen Interesse geschuldet sind — über 100 ZuschauerInnen haben sich eingefunden. Daß der Fall gesellschaftliche Relevanz hat, ist auch der urteilenden Kammer bewusst — nicht umsonst betont Kreft, daß das Bundesarbeitsgericht Recht spreche und nicht gesellschaftliche Probleme löse. Daher will man nicht über die Krise, über Managergehälter und Sparpakete reden, sodnern sich auf rechtliche Erörterungen beschränken. In diesem Sinne ist die entscheidende Frage: Rechtfertigt das Verhalten von Emmely die Kündigung. Darüber hinaus wird darüber entschieden, ob das Prozessverhalten der Kassiererin relevant für das Urteil ist — denn das war ein gewichtiges Argument in der Urteilsbegründung des Landesarbeitsgerichts Berlin. Nach der Rechtsauffassung der Firma Kaiser’s hat gerade das kompromisslose Vorgehen von Emmely gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber über den ursprünglichen Vorfall hinaus das Vertrauen zerstört.

Vertrauen ist dann auch eine entscheidender Punkt im Plädoyer von Benedikt Hopmann, der Emmely anwaltlich vertritt. Die Frage ist nach seinem Dafürhalten, ob Vertrauen in einem grunsätzlich von Ungleichheit, von Oben und Unten, geprägten Verhältnis wie dem zwischen ArbeiterInnen und Unternehmen überhaupt eine relevante Grüße darstelle — denn welche Handlungsmöglichkeiten haben schon ArbeiterInnen, die ihrem Betrieb nicht mehr vertrauen. Weiter legt Hopmann eine Liste von gerichtlichen Entscheidungen vor, mit denen Kündigungen schon in niedrigeren Instanzen gekippt wurden. In seiner Liste geht es um Unterschlagungen, um Fehlzeiten und um unerlaubte Nutzung des Dienstwagens. Die Beträge, um die es dabei geht, sind weitaus höher als 1,30 — aber die Gekündigten sind auch Vorstände und Geschäftsführer. Das Besondere am heutigen Fall ist wohl auch, daß gerade eine Kassiererin dem Mumm aufgebracht hat, bis zur letzten Instanz durchzuhalten, obwohl — so der Anwalt — die niedrigeren Instanzen ihre Interessen nur unzureichend in ihre Entscheidungen einbezogen haben.

Es folgt die Einlassung der Vertreterin von Kaiser’s. Sie reden 30 Minuten über die Glaubwürdigkeit von Emmely. Von der Bibel bis zur Zivilprozessordnung bemüht sie Referenzen, die belegen sollen: Lügen ist böse und Emmely ist eine Lügnerin. Sie sucht bei ihrem Vortrag vor allem den Blickkontakt mit den Medien — denn wie gesagt, dem Gericht geht es heute nicht um die Sachfrage, sondern allein um die rechtliche Bewertung. Insofern ist die Glaubwürdigkeit von Emmely heute im Grunde irrelevant. Aber der Gerichtssaal ist eben doch mehr als eine neutrale Bühne, auf der abstrakt Recht gesprochen wird. Heute geht es um gesellschaftliche Kämpfe, darum, ob man diejenigen, die sowieso das kleinste Stück vom Kuchen bekommen, auch noch wegen lächerlicher Unregelmäßigkeiten rauswerfen kann. Das wissen auch viele Leute im Zuschauerraum: Während Kaiser’s Anwältin Emmely diskreditiert, zischeln und murren nicht wenige der Anwesenden.

So bleibt auch ein Teil sitzen, als der zweite Senat am Nachmittag das Urteil verkündet. Es gibt aber keine Ordnungsgelder — die vorderen fünf Reihen Presse verdecken die kleine Geste des Protests. „Haben wir eine Protokollführerin? Nein? Das ist doof“ heißt es dann aber erst mal. Die Würde des Hauses ist etwas geknickt, als der erste Versuch der Urteilsverkündung an einer fehlenden Justizmitarbeiterin scheitert. Nach ein paar Minuten ist das Problem behoben und es kommt zur Urteilsverkündung: Das Bundesarbeitsgericht entscheidet ca. 15.30, daß sowohl die fristlose wie auch die nachgereichte fristgerechte Kündigung von Emmely rechtswidrig waren. Der Saal bricht in Applaus und Jubel aus.

Die Urteilsbegründung bietet dann etwas weniger Grund zum Jubeln. Hauptsächlich hebt der Senat darauf ab, daß das in 31 Jahren angesammelte Vertrauen, „ein hohes Kapital an Vertrauen, wenn man denn so will“ (so der vorsitzende Richter), in diesem Falle keine Kündigung wegen 1,30€ rechtfertigt. Auch wenn hier eine erhebliche Pflichverletzung vorliege, wäre eine Abmahnung als „deutliche Warnung“ verhältnisgemäß gewesen. Das Prozessverhalten von Emmely hält das Gericht nicht für relevant in der Frage der Kündigung.

Für Beschäftigte, die in Erwägung ziehen, gegen rechtswidrige Schikanen von Unternehmen gerichtlich vorzugehen könnte die Entscheidung Vorbildcharakter haben. Sie hat gezeigt: Kämpfen lohnt sich. Barbara E. und das Komitee „Solidarität mit Emmely“ haben in einer konzertierten Aktion einen kleinen Sieg gegen die alltäglichen Gewalttaten des Kapitalismus errungen.

Große Freude sieht man auch bei den AktivistInnen, als nach dem Erfurter Prozess die Nachricht durchkommt, daß das faktischen Verbot der FAU heute durch das Kammergericht Berlin aufgehoben wurde. Bei der abschließenden Kundgebung auf dem Erfurter Anger — dort, wo seit 2005 die Donnerstagsdemonstrationen gegen Sozialabbau stattfinden — knallen die Sektkorken und Atze Wellblech covern noch einmal mit Geige und Sperrholzbass ein Lied der Punkband Schleimkeim.

Wenn Gerichtsentscheidungen Rückschlüsse auf gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zulassen, dann haben neben Emmely und der FAU heute linke, emmanzipatorische Bewegungen im Allgemeinen einen Sieg davongetragen.

sabotnik/ksk


Medienmob


So sehn Gewinnerinnen aus – Emmely nach dem Prozess


Abschlusskundgebung auf dem Anger

Freispruch für Majestätsbeleidigung in Erfurt

Eine Person wurde gestern vom Vorwurf freigesprochen, den Erfurter Oberbürgermeister Andreas Bausewein beleidigt zu haben. Der Beschuldigte war einer der vier, die im Mai 2009 von der Polizei beim Kleben eines Plakates erwischt wurden, auf dem Bausewein im Rambo-Outfit — mit Patronengürtel und Maschinengewehr — zu sehen war.

Das Plakat war aus Anlass der Räumung des Besetzten Haus auf dem ehemaligen Topf&Söhne-Gelände im April 2009 und im Zusammenhang mit Bauseweins Wahlkampf entstanden. „Klare Verhältnisse“ war der Slogan, mit dem der Erfurter Oberbürgermeister im Landtagswahlkampf 2009 um Stimmen für die SPD geworben hatte.

Mit den Plakaten wollten seine KritikerInnen darauf hinweisen, daß der Sozialpädagoge Bausewein eine Law-and-Order-Politik betreibe. Das Gericht hat mit dem gestrigen Urteil festgestellt, daß die besagte Darstellung keine Beleidigung ist. Wegen unerlaubtem Plakatieren erging eine Ordnungsstrafe von 40 Stunden gemeinnütziger Arbeit, weiter muss der Beklagte seine Anwaltskosten tragen.

Für Repressionskosten im Kontext selbstverwaltete Zentren in Erfurt gibt es ein Soli-Konto: Inhaber Reinhold Halbleib, Kto.-Nr. 1000500337, Spk. Mittelthüringen, BLZ 82051000

Aktualisierung: Anscheinend war es doch kein Freispruch, sondern eine Einstellung!

Erfurt: Mobilisierung zum Emmely-Prozess

Um zur Kundgebung vor dem Prozess im „Fall Emmely“ am kommenden Donnerstag in Erfurt zu mobilisieren, haben Unbekannte in Erfurt im Einzelhandel Plakate an Türen und Pinnwände geklebt und in Regalen versteckt:
Solidarität mit Emmely
Barbara E., auch bekannt als „Emmely“, wurde nach 31 Jahren als Verkäuferin für „Kaiser’s“ wegen einer angeblichen Unterschlagung von Leergutbons im Wert von 1,30 Euro gekündigt — wenige Wochen, nachdem sie für Verdi in ihrer Filiale den Streik organisiert hatte. Die Kundgebung findet am 10.6. ab 10 Uhr vor dem Bundesarbeitsgericht statt.

Weiteres zum Prozess:

Bons oder Boni? – Interview mit dem Komitee „Solidarität mit Emmely“

Wir dokumentieren ein Interview mit einem Mitglied des Komitees »Solidarität mit Emmely« aus der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Wildcat.

Am 8.6. gibt es im Rahmen der KücheFürAlle bei Radio FREI ab 21 Uhr den Film „Das Ende der Vertretung“ von Kanal B zu sehen. Am 10.6. findet vor dem Arbeitsgericht Erfurt der Prozess statt, ab 10 Uhr ist hier eine Kundgebung angemeldet.

Soziale Wut

Alle waren erstaunt über den Erfolg der Emmely-Kampagne. Du selber hast es mal damit erklärt, hier sei eine soziale Wut an die Oberfläche gekommen…

Emmely und der Pfandbon sind ein Symbol für soziale Ungerechtigkeit, das zum Ausdruck all dieser grummelnden untergründigen Strömungen sozialer Unruhe wurde. Es ist wie ein Kessel unter Druck, dann ist irgendwo das Loch aufgegangen, durch das jetzt der Dampf raus kommt. Diese soziale Wut geht erstmal von Gerechtigkeitsbegrifen aus. Leute werden wütend und aktiv, weil sie ganz persönlich betroffen waren. Weil jeder das kennt: Sich wehren zu wollen und nicht zu wissen, wie weit man gehen kann. Leider äußert sich das in Gerechtigkeitsbegriffen und nicht in Begriffen wie »Ich will was haben«.

Die Medien haben vor allem die unschuldige Verkäuferin in den Mittelpunkt gerückt. Ihr hattet hingegen zunächst versucht, ihre aktive Rolle im Streik zu thematisieren…

Nee, der Streik ist anderthalb Jahre her und in den Medien geht’s nicht nur um Emmely. Und das ist gut so. Jetzt poppen all die Fälle auf, in denen die »Tat« unstrittig ist: Frikadellenfall, Maultaschenfall, Handy aufladen… Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Frage danach, ob sie den Pfandbon gemopst hat, sondern ob eine Entlassung nach dreißig Jahren angemessen ist. Und das ist ja schon ein sozialer Anspruch, weil da drinsteckt, dass die Vorstellung von Eigentum nicht so rasiermesserscharf ist, wie die BAG-Präsidentin sich das vorstellt. Eine Frikadelle ist eben nicht nur Eigentum, sondern auch ein Nahrungsmittel. In den Gerechtigkeitsfragen sind soziale Interessen drin. Unsere Aufgabe ist es, die auszupacken und in den Vordergrund zu rücken.

»Wir haben immer weniger, und den Managern stopfen sie die Boni in den Rachen«; die Krise allgemein: Hat das damit zusammengepasst?
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Gewalt ist immer schlimm


Bei Einsätzen im Falle von Familienstreitigkeiten werden mehr PolizeibeamtInnen verletzt als bei Fußballspielen und Demonstrationen zusammen. Das zeigt der jetzt veröffentlichte Zwischenbericht einer Studie über Gewalt gegen PolizistInnen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen.

Nicht nur die absoluten Zahlen sind deutlich: Angriffe auf BeamtInnen bei Demonstrationen sind seit 2005 um 60% gestiegen, bei Familienstreitigkeiten um über 90%. Aber keine Gewerkschaft der Polizei fordert eine stärkere Überwachung von Familien. Kein Innenministerium plant die Einführung einer zentralen Datei „Gewalttäter Ehe“. Keine Polizei führt „Blaue Listen“ oder eine „Kategorie E“ (wie Ehemann). Keine Partei fordert die Abschaffung des Ehegattensplittings und die Einführung einer Heiratssteuer. Keine Jugendbildungsstätte entwickelt ein Modellprojekt gegen den Extremismus der Mitte.

Denn wenn der brave Familienvater zuschlägt (geschätzte 5 Millionen Mal im Jahr), ist das eben was ganz anderes, als wenn jemand die Familienkutsche abfackelt (an die 1000 Mal in den letzten vier Jahren). Letzteres kann man ja gerne „Eine neue Qualität linker Gewalt“ nennen, ersteres ist dauerhafte Normalität in einem System, dass auf Gewalt beruht.

Film: Ende der Vertretung – Emmely und der Streik im Einzelhandel

Die Situation der Beschäftigten im Einzelhandel hat sich in den letzten Jahren drastisch verschlechtert. Während die Arbeitsbelastung immer näher an die Grenze des körperlich erträglichen geht, bleiben die Löhne immer weiter hinter den steigenden Lebenshaltungskosten zurück. Und das während die Gewinne der Unternehmen kontinuierlich ansteigen: zwischen 2000 und 2006 um 64,3%. Als die Arbeitgeber Ende 2006 die Zuschläge für Spät- und Nachtarbeit kürzen wollten, hatten sie im Empfinden vieler Beschäftigter eine Grenze überschritten: Die längste und härteste Tarifauseinandersetzung im deutschen Einzelhandel begann.

Der Film begleitet die Streikenden über mehrere Monate. Zu Wort kommen Frauen, die seit Jahrzehnten im Einzelhandel arbeiten. Viele streiken zum ersten mal in ihrem Leben. Oft sind sie allein erziehend, in Teilzeit und mit so wenig Lohn, dass sie sich ihr Essen „bei der Familie zusammensuchen“ müssen. Manchen wird ihr Engagement im Streik zum Verhängnis, Emmely zum Beispiel. Nachdem sie in ihrer Kaiser’s Filiale den Streik organisiert hat, wird ihr unter einem Vorwand fristlos gekündigt. Als sie auf Wiedereinstellung klagt bekommt sie die ganze Wucht des einseitig an den Interessen der Unternehmen ausgerichteten deutschen Arbeitsrechts zu spüren.

Der Film sucht nach Antworten auf die Frage, weshalb die Beschäftigten und ihre Organisationen nicht in der Lage sind, sich gegen die Arbeitgeber durchzusetzen. Er erkundet das Engagement der ArbeiterInnen im Streik und analysiert das Vorgehen der Streikleitung und die Rolle der Betriebsräte. Beschrieben werden auch die Interventionen linker Gruppen an der Seite der Streikenden.

KanalB // 2009 // deutsch // 56 Min

Film und Diskussion
Dienstag, 8. Juni 2010, 21 uhr
Radio F.R.E.I. (Gotthardtstr. 21, erfurt) zur KücheFürAlle.

Kundgebungen
Anlässlich des Prozesses gegen Emmely in Erfurt:
Donnerstag, 10. Juni um 10 Uhr vor dem Bundesarbeitsgericht in Erfurt (Petersberg) und um 17 Uhr am Anger.

Ein ganz und gar nicht neutraler Rückblick: Bilanz- und Strategiekonferenz


Bunt statt Braun

Die Bilanz- und Strategiekonferenz am vergangenen Wochenende in Jena zog zahlreiche Teilnehmende an. Allein 163 Menschen hatten sich bei der Konferenzleitung offiziell angemeldet, wie die Organisatorinnen bekannt gaben. Die Teilnehmenden kamen aus dem gesamten Bundesgebiet, wobei gerade aus dem Osten die eher bürgerlichen Teile der Anti-Nazi-Aktivistinnen vertreten waren.

Im Wesentlichen orientierten sich die Themen an der immer wieder beschworenen Notwendigkeit, zumindest bei nazistischen Großereignissen zusammen zu arbeiten. So wurden in den Arbeitsgruppen vor allem Fragen des Wie besprochen: Wie funktioniert die mittlerweile legendäre Fünf-Finger-Taktik? Wie organisiert man Bezugsgruppen? Wie koordiniert man anreisende Busse?

Tatsächlich ist es mit dem Mittel der Massenblockaden schon mehrfach gelungen, Naziaufmärsche zu verhindern. Wie weit die einzelnen Beteiligten dabei aufeinander zugegangen sind, war immer wieder am leidigen Thema der Gewaltfrage – back to the 90‘s – zu spüren, aber auch an der Frage des Umgangs mit den Toten aus der deutschen Zivilbevölkerung, die die Verteidigung der Alliierten gegen Deutschland mit sich brachten. Die Konferenz bot dabei einen wichtigen Raum, diese zumeist intern geführten Debatten in den gemeinsam besetzten Bündnisraum zu tragen.

Leider wurden die durchaus verschiedenen Erfahrungen der Teilnehmenden aus ihren Mobilisierungen nur vereinzelt aufgenommen. Die Erfolge von „Köln, Dresden, Jena, Leipzig“, wie es in der Ankündigung hieß, überschatteten ein wenig den Austausch über Erfahrungen aus anderen Aktionen. Und so konnte ab und an der Eindruck entstehen, wenn man nur dem Ratgeber richtig folge, dann klappt’s auch mit der Blockade. Nur hat man aus gutem Grunde die Rechnung ohne die Polizei gemacht, ohne die lokalen Staatsvertreter, ohne das zuständige Innenministerium, die allesamt den Blockaden nicht immer und überall so freundlich gesonnen sind.

Nichtsdestotrotz hat die Konferenz zumindest das gebracht: eine bessere Vernetzung und – vor allem bei den Teilnehmenden aus dem Osten – ein Schritt weiter zur Realitätsnähe. Die Auseinandersetzungen darum, dass sich die Polizei unter Umständen auch einmal nicht schützend zwischen Nazis und Blockaden stellt, dass Gewaltfreiheit bestenfalls ein Kriterium der gegenseitigen Abgrenzung sein kann, nicht aber die Basis für eine Bündnisarbeit, dass das Grundgesetz nicht unbedingt ein vermittelbares Motiv für die Anti-Nazi-Arbeit ist, diese Debatten haben den verschiedenen Bündnisbeteiligten vor Augen geführt, wie weit die Wege zum Kompromiss doch für die einzelnen waren und haben zugleich eine breite Palette an Notwendigkeiten der gegenseitigen Verständigung präsentiert.

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Vereint gegen koloniales Unrecht – in Erinnerung an die Toten der Festung Europa

Karawane-FestivalUnter diesem Motto wird vom 4.-6. Juni 2010 ein Festival in Jena stattfinden. Das Wort ‚Festival‘ steht in diesem Zusammenhang für die Ausdrucksform unseres politischen Kampfes, die zentralen Elemente neokolonialer Ausbeutung und die damit verbundenen Folgen in kreativer und sehr bestimmter Form in die Öffentlichkeit zu tragen.
Dabei gilt vor allem: Dezentral und draußen. Es werden drei Tage lang an mehreren Orten der Jenaer Innenstadt verschiedenste Aktionen stattfinden. So unter anderem Vorträge, Diskussionen, Theaterstücke, Live-Musik, Filmvorführungen und Ausstellungen. Zwei zentrale Programmpunkte bilden hierbei die Eröffnung eines Mahnmals für die Toten der Festung Europa und eine Maskeradenparade, bei der in Form von nigerianischen Maskeraden jene, die bei auf ihrem Weg nach Europa gestorben sind, Einzug in die Stadt erhalten werden.

Weitere Infos und das Programm für Freitag, Samstag und Sonntag unter www.karawane-festival.org.

Textiles Gestalten in der Salinenschule

Textil heißt das Literaturfestival, dass seit dem 21.5. in der Salinenschule in Erfurt stattfindet. Ein Festival deshalb, weil die VeranstalterInnen die Literatur von der Schreibstube in den öffentlichen Raum holen wollen. Niederschwellig soll es sein, sowohl in dem Sinne, dass Literatur zu den Menschen geht, als auch in dem Sinne, dass Leute befähigt werden sollen, sich die Sprache anzueignen. Dazu hat der Verein einen Teil der alten Salinenschule (Ecke Salinenstraße-Magdeburger Allee) gemietet.

Im Moment wirken die Räume noch unfertig, aber für Workshops und zum Kaffeetrinken sind sie geeignet. Bis zum Festival-Finale vom 10.-12. Juli soll noch einiges passieren, auch Aktionen wie das Running Mike — eine Innenstadtbeschallung am 12. 6., für die noch MitstreiterInnen gesucht werden. Zur Aktionsvorbereitung dient u.A. ein Parolenworkshop am 10.6.. Was noch geschieht, hängt auch von den BesucherInnen des Festivals ab. Die Salinenschule soll ein Offener Raum sein, die OrganisatorInnen sind wochentags ab 16 Uhr offen für Ideen, Anregungen und Wünsche.

Eigentlich war geplant, über die Festivalwochen die Salinenschule auch zum Wohnen zu nutzen. Dieses Vorhaben ist aber anscheinend an der mangelnden Flexibilität der Erfurter Behörden gescheitert. Damit alles seine Ordnung hat, wird der Offene Raum also abends wieder zugeschlossen. Zumindest beim Finalwochenende wird das aber recht spät sein: Nach Lesungen und Poetry-Slam legen DJs auf.

Das komplette Programm gibt es unter http://www.textil-festival.de/.

10. Juni, Erfurt: Solidarität mit Emmely

Am 10. Juni wird der Fall von Barbara E., auch bekannt als „Emmely“, vor dem Bundesarbeitsgericht in Erfurt verhandelt. Emmely wurde nach 31 Jahren als Verkäuferin für „Kaiser’s“ wegen einer angeblichen Unterschlagung von Leergutbons im Wert von 1,30 Euro gekündigt — wenige Wochen, nachdem sie für Verdi in ihrer Filiale den Streik organisiert hatte.

Das Arbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat dazu festgestellt, daß bei einer Kassiererin auch eine Bagatelle eine Kündigung rechtfertige, da auch 1,30€ dazu geeignet seien, das Vertrauen zwischen Betrieb und Beschäftigter nachhaltig zu schädigen. Weiter war das Gericht der Ansicht, der vorausgegangene Streik habe nichts mit der Kündigung zu tun. Nun, wer’s glaubt… Emmely besteht darauf, daß sie keine Leergutbons unterschlagen hat. Daher geht der Prozess am 10.6. um 11.30 Uhr in die nächste Instanz vor das Bundesarbeitsgericht in Erfurt.

Unsere Solidarität gilt einer unerschrockenen Kämpferin gegen die Zumutungen, die der Kapitalismus mit sich bringt!

Das Komitee „Solidarität mit Emmely“ ruft zum Protest auf:
10.6., 10.00 Uhr, vor dem Bundesarbeitsgericht auf dem Petersberg: Solidaritätskundgebung
10.6., 17.00 Uhr, Anger: Feiern über oder Protestieren gegen das Urteil

Wir werden im Vorfeld den KanalB-Film „Das Ende der Vertretung. Emmely und der Streik im Einzelhandel“ zeigen — wahrscheinlich am 8.6..

Tanz, Burschi, Tanz — Proteste gegen den Coburger Convent

„Hier hat man ein ebenso feines Gespür für Tradition wie für Innovation“ heißt es auf der Webseite der fränkischen Kleinstadt Coburg. Die Tradition ist, daß sich hier jedes Jahr zu Pfingsten hunderte Studenten verkleidet in der Öffentlichkeit betrinken. Die Innovation ist, daß seit einigen Jahren nur mit einem massiven Polizeiaufgebot die Sicherheit der Veranstaltung gewährleistet werden kann.

Coburg ist eine saturierte westdeutsche Kleinstadt. Samstag morgen sind die BürgerInnen beim Einkaufsbummel. Was das Bild stört, sind nervöse Polizisten, die mit Mannschaftswagen durch die Fussgängerzone fahren — im Minutentakt. Grund der Aufregung sind ca. 300 DemonstrantInnen, die sich auf dem Schlossplatz gesammelt haben, um gegen den Coburger Convent zu demonstrieren. Auch die Gegenseite ist anwesend. Leicht angesäuselt posieren Verbindungsstudenten großkotzig1 mit Bierkrügen am Rande der Auftaktkundgebung. Die ersten Äußerungen aus dem Lauti betonen, daß es bei der Demonstration um eine legitime politische Meinungsäußerung geht. „Unnötig“ findet das ein älterer Bürger am Rand. Der Coburger Convent stört ihn nicht, er sagt, die Burschen würden heute nicht mehr viel Unfug machen, aber Geld in die Stadt bringen — anders als man es offenbar von der Demonstration erwartet. Weil im letzten Jahr aus der Demo eine Bierflasche geflogen war, befürchtet man hier, daß es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommt. Wie defensiv die Demo mit dieser Erwartungshaltung umgeht sieht man, als die provozierenden Burschis immer näher kommen. Zwei Streifenpolizisten schicken sie vom Platz: „Ihre Glasgefäße stellen eine Provokation dar“. Die Demo applaudiert.

Ich frage ein paar GRÜNE — fast die einzigen, die nicht komplett in schwarz gekommen sind –, warum sie hier sind. Neben Sexismus, Homophobie und Elitenbildung fällt ihnen vor allem ein, daß die Burschis demonstrativ in der Öffentlichkeit saufen. Das hat in Coburg eine besondere Brisanz, da die Stadt sonst eine Ordnungspolitik fährt, die den öffentlichen Alkoholkunsum sanktioniert. Gerade ein paar Tage ist es her, daß gegen die „School’s out-Party“ am letzten Schultag ein riesiger Park von der Polizei abgesperrt wurde. Dutzende Jugendliche hatten Anzeigen kassiert. Aber an Pfingsten ist Saufen in Coburg Kulturgut, kein Ärgernis. Viele Leute über 30 sind nicht auf dem Platz. Eine der wenigen Älteren meint: „Die Leute sagen: ‚Ihr habt ja recht‘, trauen sich aber nicht, auf die Demo zu kommen – ‚Wenn die Nachbarn mich sehen, werd‘ ich hier nicht mehr glücklich.'“ Das scheint die Stimmung ganz gut zu treffen. Mindestens der Hälfte der BürgerInnen am Rande der Demo ist die Abscheu ins Gesicht geschrieben. Zwei rotgesichtige Männer zerknüllen demonstrativ Flugblätter. Die Autofahrer, die wegen der Demo drei Minuten an der Kreuzung warten müssen, drehen trotz hochsommerlicher Temperaturen die Scheiben hoch, damit sie nichts von der Demo hören.

Die Stimmung in der Demo ist trotzdem gut und vor allem gelassen. Obwohl die Polizei keine Gelegenheit auslässt, Vorurteile gegenüber bayerischen Beamten zu bestätigen, reagieren die DemonstrantInnen besonnen auf Schikanen und Rempeleien, auch als aus einer Kneipe heraus eine Demonstrantin getreten wird. Vorne läuft Punkmusik, hinten Techno. Redebeiträge thematisieren Sexismus, Homophobie und Männerbünde.

In der Nähe vom Bahnhof gibt es eine lange Zwischenkundgebung, bei der ein szenischer Dialog die Lage in Coburg zum Ausdruck bringt: Obwohl ein breites Bündnis gegen den CC aufruft, war niemand in Coburg bereit, ein Ladenlokal für den Infopunkt über Pfingsten zu vermieten. Der städtische Jugendclub hat von vornherein abgelehnt, seinen Jugendlichen Räume hierfür zur Verfügung zu stellen. Schon vereinbarte Vermietungen wurden abgesagt, nachdem der Staatsschutz die Besitzer angerufen hatte. Einzelpersonen aus dem Vorbereitungskreis wurden offen observiert. Als letztes musste der im Rahmen der Proteste geplante Stadtrundgang „Coburg im Nationalsozialismus“ ausfallen, weil der Stadtführer nicht mit den Gegenprotesten in Verbindung gebracht werden wollte. Als Sahnehäubchen ist dann bei der Demo außer den GRÜNEN kein Mensch von den bürgerlichen BündnispartnerInnen. Die szenische Lesung endet damit, daß 300 Jugendliche, davon sicherliche viele aus Coburg, rufen: „Coburg-Hass, Coburg-Hass, Coburg, Coburg, Coburg-Hass, Hass, Hass“. Die Webseite der Stadt sagt übrigens: „In Coburg versteht man es, [..] vorzüglich zu leben“.

Ich frage eine Reporterin der Lokalpresse, ob die Stimmung in der Stadt wirklich so fanatisch gegen die Proteste ist, wie es scheint. Sie überlegt und verneint. Im letzten Jahr sei der Rahmen der Proteste zu unklar gewesen. Dieses Jahr nehme das ganze langsam Form an. Ich frage nach, ob das bedeutet, daß Verbände und Parteien mit im Boot sitzen und erfahre, daß hier der Knackpunkt liegt. Protest alleine im Rahmen des Versammlungsrechts ist in Coburg scheinbar nicht legitim. Aber selbst wenn IG Metall, die GRÜNEN, der Bildungsstreik und die Partei „Die Linke“ zumindest formell beteiligt sind, geht das ganze vielen Bürgern zu weit. Vor allem die schon erwähnte Sorte rotgesichtiger Männer sind erbost darüber, daß es Leute gibt, die es sich einfach herausnehmen, dagegen zu sein. „Von den Linken nehme ich nichts“ meint der eine, während ein Rentner in aus einem Cafe aufgeregt in Richtung der Demo schimpft, sich dabei verschluckt und von seiner Gattin beruhigt wird. Mein Eindruck ist tatsächlich, daß die Reaktion auf die Demo und die verteilten Flugis alters-, klassen- und geschlechtsspezifisch funktioniert: Vor allem Frauen, junge Leute, und diejenigen, die nicht nach viel Geld aussehen, nehmen Flugblätter und wirken interessiert. Kein Wunder, der Convent ist ein Männerbund. Wer hier mitmacht, will zur Elite von morgen gehören — und sagt das auch: „Ich brauch‘ ja später Leute, die mein Auto putzen“ pöbelt einer der Studenten vom Rand.

Kurz vor dem Ende kommt die Demonstration auf den Markt in der Stadtmitte. Hier sind die Burschen in der Masse präsent. Es ist mittlerweile Nachmittag, die Sonne brennt auf die Besatzung der Biertischgarnituren. Die Demo belegt die linke Hälfte des Platzes, dann kommt eine lose Polizeikette, dann die Burschen. Ich rede mit einem Verbindungsstudenten. Er meint, der CC sei mittlerweile „ziemlich genervt“ davon, daß man sich jedes Jahr wieder gegen die Vorwürfe verteidigen zu müssen, daß man ein elitärer, sexistischer, homophober Männerbund sei. „Völlig aus der Luft gegriffen“, wie er meint. Leider ist die Anlage der DemonstrantInnen für den großen Platz viel zu klein, sodaß man jenseits der Demo kaum was versteht. Der Eindruck von Außen ist: „Wir sind dagegen“ — nun, dafür gibt es viele gute Gründe in Coburg.

Die Polizei liefert zum Ende der Demo einen weiteren: Der Lautsprecherwagen wird, kaum daß er die Demo verlassen hat, komplett mit FahrerInnen mit zur Polizeiwache genommen, da der Verdacht besteht, das Auto2 könne geklaut sein. Die Begründung für diese Massnahme: Die Halterin war nicht anwesend. Wie so oft wissen alle Beteiligten, daß die Maßnahme Schikane ist und Kleinstadtpolizisten hier ihre Macht ausspielen. Und das hat System, nicht nur von der Polizei aus: Schon im letzten Jahr hatte die Ordnungsbehörde im Auflagenbescheid Seitentransparente verboten. Die Klage dagegen war 2009 erfolgreich. In diesem Jahr stand die Auflage wieder im Bescheid. Aber so ist das halt: ähnlich wie in Thüringen scheint Coburg erst halb zivilisiert. „Coburg spannt den Bogen zwischen Geschichte und Moderne“, wie es auf der Homepage der Stadt heißt.

Nach der Demo schlendern wir durch den Hofgarten. Hier steht ein fettes Denkmal für „Ehre, Freiheit, Vaterland“, das Motto des Verbandes, der es für „völlig aus der Luft gegriffen“ hält, daß man seinen Nationalismus kritisiert. Ein paar Meter weiter steht das nächste Denkmal: für die „Unvergessene Heimat“ — das Sudentenland, Schlesien, Pommern. 1998 wurde das große Denkmal umgeworfen, im letzten Jahr bemalt. Dieses Jahr ist alles sauber. In der Innenstadt steht vor jedem zweiten Haus eine Birke als Symbol dafür, daß die Burschen willkommen sind.

In einem der Hotels, in dem die alten Herren untergebracht sind, steht die Figur eines dienstbaren Mohren in der Lobby. Er trägt eine Mütze und bunte Farben, allerdings kein Schwert. Es ist völlig klar, wer in der Bildsymbolik oben und wer unten steht, wer fechtet und wer bedient, wer zur Herrenrasse gehört und wer eine Witzfigur ist. Aber es ist „völlig aus der Luft gegriffen“, daß diese Darstellungen etwas mit Rassismus zu tun haben.

Gegen Abend wird es dann richtig unangenehm. Die Burschis sind mittlerweile gut abgefüllt und machen mit ihrer Präsenz den Öffentlichen Raum voll. Vereinzelt machen sich Leute aus dem Spektrum der GegendemonsrantInnen die Mühe, mit ihnen zu sprechen. „Die faulen Hartz4-Leute sollen nur kommen“ grunzen betrunkene Nachwuchsakademiker. Die ganz abgefüllten wollen sich prügeln, werden aber von CC-Ordnern zurückgehalten — anscheinend ging die Parole an die Studenten, nicht negativ aufzufallen. Gerüchteweise hören wir, daß sich einzelne GegendemonstrantInnen erfolgreich auf Mützenjagd begeben haben.

Auf dem Heimweg sehen wir vor einer Kneipe geschätzte 100 Burschen und Alte Herren mit glasigen Augen und teilweise sabbernd um 12 jungen Frauen herumstehen. Die Frauen tanzen im eng anliegenden Gymnastik-Dress zu 90er-Jahre Disco-Musik. Es ist völlig klar, wer hier zum Objekt von Männerphantasien gemacht wird und wer sich daran aufgeilt. Aber der Vorwurf, der Coburger Convent sei ein sexistischer Männerbund ist natürlich „völlig aus der Luft gegriffen“.

Die GegendemonstrantInnen lassen sich den Protest trotz widrigster Umstände nicht verleiden: Am Sonntag gibt es eine Reclaim-the-Streets-Party. Am Anfang wird die „Freie Sozialistische Republik Hofgarten“ ausgerufen, dann ziehen 40 Leute mit Techno und Luftballons durch die Innenstadt. „Tanz, Burschi, Tanz“ wird den verkaterten Studenten zugerufen, es werden antisexistische Plakate geklebt. Touristengrüppchen freuen sich. Es gibt sogar Einzelne, die sich dem Aufzug anschließen.

Morgen (Montag) Nacht findet der traditionelle Fackelmarsch der Burschis durch die Coburger Innenstadt statt. Es ist „völlig aus der Luft gegriffen“, an Alte Zeiten zu denken, wenn Deutsche Männer uniformiert mit Fackeln durch die Nacht laufen und das Deutschlandlied singen.

Aber letzten Endes können die spießigen Männerbünde nicht auf Dauer ihre Dominanz behalten. Gerade die Herren mit dem hochroten Kopf müssen irgendwann auf ihr Herz achten und sich zurückziehen. Die jüngeren Leute aus Coburg wissen: „Coburg ist Scheiße“ und sind entschlossen, dem etwas entgegen zu setzen.

  1. Es ist in diesem Kontext angebracht, darauf hinzuweisen, daß das im übertragenen Sinne gemeint ist. [zurück]
  2. Es handelt sich um einen buntbemalten Bus, der seit Jahren für viele Demos im fränkischen Raum genutzt wird [zurück]


Der schlaue Fuchs denkt frei — Techno-Block auf der Demo gegen den Coburger Convent


Burschenherrlichkeit — junge Akademiker präsentieren sich


Sogar die Blumenkübel sind Elite in Coburg


Plüschburschi


„Unvergessene Heimat“ im Coburger Hofgarten


Flugblatt gegen das Coburger Convent

Utopia Now 2010 – Konferenz zu Utopien

Das Jahr 2010 wurde noch vor 30 Jahren in unzähligen utopischen Romanen, Comic und Filmen schillernd oder grau ausgemalt. Im Osten dominierten Landwirtschaften in den Ozeanen, Weltraumreisen, fliegende Autos – eine Welt ohne Hunger und Kriege. In den westlichen Science Fiction-Werken ging es oft um die Welt nach einem Atomschlag, Angriffe der Aliens oder Kriege im Weltall.
Zwei Dekaden nach dem Ende des realexistierenden Sozialismus in Osteuropa befinden wir uns weiterhin in einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Auswirkungen tröpfeln langsam in jeden Haushalt. Ist der Kapitalismus in der Krise oder ist es eine Krise im Kapitalismus? Was kommt nach der Krise? Gibt es Ansätze, die uns hoffen lassen? Neue Zeiten für Utopien?

Konferenz Utopia Now 2010 – 28.-30. Mai 2010, Erfurt

Programm und weitere Informationen unter utopianow2010.blogsport.de.

Leben in Thüringen — nicht mit der falschen Hautfarbe

Gestern wurde der in Waltershausen (bei Gotha) lebende Flüchtling Adnan Al-Masharga von der Polizei abgeholt und abgeschoben.

Al-Masharga lebte seit 1999 in Deutschland. Dass er nach mehr als 10 Jahren Aufenthalt immer noch kein Bleiberecht hatte, liegt daran, dass die deutschen Behörden seine Angaben zur Identität und seine Personaldokumente nicht für glaubhaft gehalten haben — bis gestern. Denn die Dokumente, die auf der einen Seite nicht gut genug waren, um ein Aufenthaltsrecht zu begründen, waren ganz offensichtlich hinreichend für die Abschiebung. Wohlbemerkt: Normalerweise kann eine Abschiebung bei Personen erfolgen, deren Identität geklärt ist.

Die nächste Thüringer Spezialität: Die Abschiebung ist auf halbem Wege stecken geblieben. Al-Masharga sitzt derzeit in Jordanien in Polizeigewahrsam, weil sein Ziel, die Westbank, nicht sicher erreichbar ist. Eben wegen der unabwägbaren Reise werden palästinensische Flüchtlinge in der Regel nicht aus Deutschland abgeschoben. Denn die Rechtslage gebietet, dass ein sicherer Reiseweg gewährleistet sein muss, bevor eine Abschiebung erfolgt1.

Für Thüringen sind aber selbst die niedrigen rechtlichen Standarts, die es zum Umgang mit Flüchtlingen gibt, noch zu hoch. Man ist offenbar bestrebt, einen Präzedenzfall zu schaffen und als erstes Bundesland an den aktuellen Gepflogenheiten vorbei einen Flüchtling irgendwohin abzuschieben, nur damit man ihn los ist.

Der Flüchtlingsrat Thüringen schreibt dazu in einer Pressemitteilung: „Offensichtlich hat es […] weder die Ausländerbehörde Gotha, das Thüringer Landesverwaltungsamt noch das VG Meiningen interessiert, wie Herr Al-Masharga überhaupt in die Westbank einreisen können soll“ und weiter: „Es ist ein Skandal, dass Adnan Al-Masharga abgeschoben wurde. Wir fordern die sofortige Rücküberstellung nach Deutschland“.

  1. Mit anderen Worten: Flüchtling dürfen erst nach einer geordneten Rückführung erschossen werden — denn auch das Verwaltungsgericht Meiningen geht in seiner Urteilsbegründung davon aus, daß es in der Westbank „zu Schüssen auf vorbeifahrende Fahrzeuge“ kommt und der Aufenthalt dort nicht sicher ist [zurück]

Coburg: Heraus auf die Straße gegen elitäre Seilschaften

Kotze Was haben CDU&FDP, Asbach Uralt, die Chemie und Pharma-Multis Bayer, BASF und Hoechst, die Allianz-Versicherungen, der Bundesgerichtshof, jede Menge Uni-Präsidien und diverse Ministerien auf Bundes, Landes- und EU-Ebene gemeinsam? In all diesen Institutionen sitzen alte Herren aus den Studentenverbindungen, die sich am kommenden Wochenende zum Coburger Convent treffen. Verbindungen sind institutionalisierte Seilschaften. Hier wird der „kurze Draht“ zwischen Industrie, Politik und Verwaltung gepflegt, denn: „In unsicheren Zeiten bewähren sich gute Verbindungen“, wie es in der Selbstdarstellung des elitären Netzwerks heißt. Seine politische Ausrichtung ist rechtskonservativ mit Schnittmengen zum Faschismus. Das Männer- und Frauenbild ist gruselig. Wenn Burschis feiern, ist das in jedem Sinne zum Kotzen.
Das Aktionsbündnis gegen den Coburger Convent lädt über Pfingsten zu verschiedenen Aktionen gegen das Coburger Convent:

21.05.10, 16 Uhr: Stadtführung „Coburg im Nationalsozialismus“, Treffpunkt Mohrenstraße Ecke Hindenburgstraße
22.05.10, 13 Uhr: Demonstration „Zukunft statt herkunft: Studentische Verbindungen anfechten!“, Schlossplatz, abends Konzert in der Oyle
24.05.10, 9 Uhr: Kundgebung gg. das Heldengedenken, Herzog-Alfred-Brunnen im Hofgarten
24.05.10, 22 Uhr: Kundegbung gg. den Fackelmarsch, Webergasse & Spitaltor

Aus Südthüringen ist es nur ein Katzensprung nach Coburg.

Morgen (Samstag): Platzkonzert vor der Staatskanzlei in Erfurt

Das Philharmonische Orchester des Erfurter Theaters wird morgen, am 15. Mai von 11.00 bis 11.30 vor der Staatskanzlei mit Musik von Mozart, Nicolai und Strauß gegen finanzelle Kürzungen im Kulturbereich demonstrieren. Wir unterstützen das und fordern: Punkrock und Philharmonie für alle und zwar umsonst! Die aktuellen Kürzungen gehen in die entgegengesetzte Richtung: Kein Ort für Punkrock. Philharmonie nur für die wenigen, die’s sich noch leisten können.

8. Mai, Tag der Befreiung: „СТОЙ – Von Stalingrad nach Weimar“ in Erfurt

СТОЙ - Erinnerungen von Stalingrad nach Weimar„Glaubt nicht, Ihr hättet Millionen Feinde. Euer einziger Feind heißt – Krieg.“
Erich Kästner

Dieses Gedicht steht auf einer der Tafeln der Ausstellung „СТОЙ – Erinnerungen von Stalingrad nach Weimar“, die am 8. Mai auf dem Erfurter Anger eröffnet wurde. Die Ausstellung zeigt den Weg der sowjetischen 8. Gardearmme, die in Stalingrad die Wehrmacht geschlagen hat und später u.A. in Weimar stationiert war. Dabei ist die Darstellung um Neutralität bemüht, man könnte böswillig auch sagen: um Beliebigkeit. Die Tafeln — verrostete Eisenträger — zeigen z.B. Stalingrad aus der Perspektive der Soldaten beider Seiten. Sie zeigen die Toten der Sowjetunion und die unterdrückte deutsche Zivilbevölkerung in den Nachkriegsjahren. „So viel Leid auf beiden Seiten“ mag man dazu denken. Denn die einfache Wahrheit, daß dieses beiderseitige Leid ursächlich von der Deutschen Seite ausgegangen ist, findet man im Vergleich zur relativierenden Symbolik der bildlichen Gestaltung nur schwach repräsentiert. Der blanken Zahl von 500.000 toten Sowjetsoldaten stehen z.B. deutsche Feldpostbriefe gegenüber. Die 35.000 Menschen, die täglich über den Anger laufen, werden sich kaum mit der abstrakten Zahl 500.000 identifizieren.

Dagegen setzt die Anfangstafel der Ausstellung einen anderen Schwerpunkt: Hier sieht man groß ein freundliches Gesicht der Roten Armee, während ein Trümmer-Fragment im Hintergrund steht. Man kann hoffen, daß diese Darstellung mehr Eindruck macht, als die relativistischen Elemente der Ausstellung. Denn auch für entschiedene Gegner_innen des Krieges war der größte Feind bis zum 8. Mai 1945 Deutschland.

Wir danken heute denjenigen, die zur Befreiung beigetragen haben:

Über eine Übersetzung des Textes würden wir uns freuen. Wir haben bisher nur rausbekommen, daß es um sowjetische Partisanen geht.

Naziaufmarsch gewaltsam verhindert! – Statement von AG17

Der Naziaufmarsch am 1.Mai 2010 ist gewaltsam verhindert worden – durch die Polizei. Alle anderen Behauptungen sind politische Lügen.
Polizei verhindert Naziaufmarsch am 1. Mai 2010 in Erfurt
Weder die Bürgerblockaden, noch die Antifa, noch lamentierende Landtagsabgeordnete hätten sich gegen dieses Aufgebot von ca 1000 Einsatzkräften samt weiträumigen Absperrungen ganzer Stadtteile durch Absperrgitter durchsetzen können. Die Blockaden am Leipziger Platz sind von den „Ordnungskräften“ ohne polizeiliche Notlage zugelassen worden und waren Teil einer politischen Choreografie. Somit wurde die Nazidemo nicht durch „friedliche Bürgerblockaden“ verhindert, weil jene lediglich als Vorwand für die Polizei her hielten, die Nazis nicht weiter laufen zu lassen. Die Verhinderung des Aufmarsches der NPD erfolgte im Wesentlichen durch die Staatsgewalt in Form von Androhung und Ausübung von Gewalt. Von Friedlichkeit keine Spur. Gewalt ist nicht verhindert worden sondern das staatliche Gewaltmonopol wurde durchgesetzt.
Die Krone der Demagogie in den Medien war die Behauptung, dass „Erfurter Bürger“ den Naziaufmarsch verhindert hätten. Die meisten Leute, die sich an der Gegenmobilisierung beteiligten, kamen definitiv nicht aus Erfurt und würden in selbigen Gazetten als „Reisechaoten“ beschimpft worden sein, wäre es weniger glimpflich abgelaufen.

Um es klar zu stellen: wir (Antifa AG17) finden es gut und wichtig, Nazis die Events zu versauen. Was wir jedoch fatal finden, wenn der Preis für derlei „Erfolge“ eine beliebige Auslegung des Versammlungsrechts für die Staatsmacht ist, die sich genauso auch gegen linke Demos richten kann. An der Gleichsetzung von Rechts und Links in der sogenannten „Extremismus-Debatte“ arbeitet die „politische Mitte“ diese Landes eh schon emsig. Dieser Beliebigkeit Vorschub zu leisten und alles fallen zu lassen weil die Hauptsache ja sei, dass die Nazis nicht marschieren, finden wir falsch. Eine Antifa, die solch eine Farce als Sieg abfeiert, schießt sich selber ins Knie.

Nazis und ihre Ideologien gehören auf der Straße und in der Öffentlichkeit zurückgedrängt, weil ihre Positionen menschenverachtend, reaktionär und autoritär sind und sie eine Gefahr für Migrant_innen und andere „Undeutsche“ sind, nicht weil sie als braune Schmuddelkinder und Image-Killer der „geläuterten“ Bundesrepublik Deutschland im Wege stehen. Aufgabe der Antifa sollte es nicht sein, in Anti-Nazi Pop Events aufzugehen sondern sich ebenso kritisch gegen den modernen Nationalismus der scheinbar „geläuterten Nation“ zu stellen, um nicht dem Falschen Vorschub zu leisten.

Nochmals: unser Dank an Alle, die selbstorganisiert und/oder mit uns an diesem Tag unterwegs waren.

ag17.antifa.net

Brauner Spuk mit Spezialkamera sichtbar gemacht

brauner Spuk

Wie das so ist mit dem Spuk: Wenn er auftaucht, versetzt er alle in große Aufregung. Man muss die Ghostbusters rufen. Die sind zwar auch komisch mit ihren Kapuzenpullis, aber besser, sie machen die Innenstadt unsicher als der Spuk. Es folgt der Exorzismus: „Weiche Extremistanas, die Kraft der Zivilgesellschaft bezwingt Dich!“ Puff. Alles wieder gut. Der Spuk ist durch ein bisschen Hokuspokus zurück in die Zwischenwelt* verbannt. Woher er gekommen ist, kann man nicht erklären, ebensowenig, warum er sich gerade hier manifestiert hat. Oder wer die Geister gerufen hat. So ist das mit einem Spuk. Die Ghostbusters kann man nicht mehr brauchen, wenn der Spuk ausgetrieben ist. Wenn gerade kein Spuk bevorsteht, sind sie verschrobene Sonderlinge, die ständig irgendwo Gespenster sehen. Dabei weiß doch jeder, daß es keine Gespenster gibt.

(*) In Gotha konnten die Nazis nach dem abgebrochenen Marsch in Erfurt am 1. Mai ohne Probleme marschieren.

Jena: „Goldenes Sparschwein“ verliehen


Jena (sabotnik) Zum ersten Mal wurde vergangene Woche in Jena das „Goldene Sparschwein“ für besonders rigide Leistungsbetreuer des städtischen Eigenbetriebes jenarbeit, der zuständigen Behörde für die ALGII-Elendsverwaltung, verliehen.
„Zum ersten Mal wollen wir mit diesem Preis eine Person auszeichnen, die sich in der Hartz IV-Elendsverwaltung besonders hervorgetan hat. Wir wollen heute und zukünftig jene ehren, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, ALG II-Betroffene zu verunsichern: in der Wahrnehmung ihrer Rechte, in ihrem Mut zum Widerstand und nicht zuletzt in ihrer Würde als Mensch, der einen Anspruch auf Respekt und Achtung hat“, begrüßte eine Vertreterin der Jury die Anwesenden.
Letztlich seien die bürokratischen Auswüchse jedoch nur die Spitze des Eisberges: „Darunter verbergen sich die Tonnen alltäglicher Zumutungen, die ein Gesellschaftssystem mit sich bringt, dessen Grundprinzipien Ausbeutung und Profit heißen.
Nichtsdestotrotz gibt es immer wieder Einzelne, die der täglichen Mühsal noch die Krone aufsetzen wollen. Deshalb stehen wir heute hier.“

„Die Preisträgerin hat sich durch außergewöhnliche Leistungen im Bereich Sanktionierungen und Kürzungen… hervorgetan. Die Betroffenen werden mit ihren Anträgen hingehalten und ihnen wird klar gemacht, dass sie von den Entscheidungen von jenarbeit abhängig sind“, hieß es in der Laudatio.
Die Jury, unter ihnen Sozialrechtsanwälte, Betroffene und Mitarbeiterinnen des Kommandos Sozial-Kräfte (kurz: [KSK]-Jena), hatte mehrere Nominierungen erhalten.

Zur Preisverleihung waren neben Mitgliedern der Jury und jungen IG-Metall-Gewerkschaftern auch der Werkleiter, Eberhard Hertzsch, erschienen. Er stellte sich nicht nur verbal, sondern auch ganz körperlich vor seine Mitarbeiterin, die für das Sammeln von Widersprüchen und Dienstaufsichtsbeschwerden bekannt ist. So wurde der Preis stellvertretend an ihn übergeben.
Während der feierlichen Zeremonie störte er wiederholt durch Zwischenrufe und versuchte im Anschluss, den Ablauf durch Diskussionen zu verzögern. So provozierte er Gäste, indem er behauptete, Widersprüche würden im Amt schnell bearbeitet. Diese dreiste Lüge konnte eine anwesende Person jedoch am eigenen Beispiel entkräften, was den Werkleiter zu der Äußerung verleitete: „Sie sehen nicht so aus, als gänge es bei Ihrem Widerspruch um die existenzielle Grundsicherung, Sie stehen ja heute hier.“

Ein wenig überarbeitet, Original hier.

Samstag, 8. Mai: Früchte des Zorns im Filler

Hausbesetzungen und Widerstand gegen Räumungen ziehen Repression nach sich. Repression kostet Geld. Um die Repressionskasse aufzufüllen, findet am Sonntag, 8. Mai im Filler (Schillerstraße 44, Hinterhaus, Erfurt) ein Konzert statt:

Früchte des Zorns

[audio:https://sabotnik.infoladen.net/images/Fr_chte_des_Zorns__Das_Herz_ist_ein_Muskel_in_der_Gr__e_einer_Faust.mp3]
Das Herz ist ein Muskel in der Größe einer Faust (Download als mp3)

Wer die Musik nicht mag, kann auch hier spenden: Repressions-Solikonto, Inhaber Reinhold Halbleib, Kto.-Nr. 1000500337, Spk. Mittelthüringen, BLZ 82051000

Presented by haendehoch.blogsport.de

„Antifa heißt früh aufstehen“ – Erfurt 1. Mai 2010

Blockade auf der Stauffenbergallee
„Antifa heißt früh aufstehen“ meint etwas verdrießlich einer der TeilnehmerInnen der Sitzblockade am Beginn der Stauffenbergallee. Denn obwohl man um halb neun noch problemlos von der Stadtmitte zum Blockadepunkt direkt am Anfang der Nazi-Route kommt, sitzen nur ca. 70 Leute quer über die Stauffenbergallee — ziemlich wenig für eine vierspurige Straße mit großzügigem Mittelstreifen. Eigentlich hatte man hier mit mehr Leuten gerechnet, aber scheinbar haben eine ganze Menge Leute ihr Date mit der Straße verpennt. Ein paar DemonstrantInnen spielen Karten, andere lesen Zeitung, während einige MandatsträgerInnen der Partei „Die Linke“ mit der Versammlungsbehörde aushandeln, daß die Blockade für’s erste nicht abgeräumt wird. Obwohl es regnet und hier keiner so recht davon ausgeht, mit 70 Leuten die Blockade zu halten, ist die Stimmung gut.

Am Anderen Ende der Stadt, in der Johannesstraße, sieht man um 9.00 Uhr eher griesgrämige Gesichter. Kaum 100 Menschen haben sich am Ort der Auftaktkundgebung für die Antifa-Demonstration unter dem Motto „Hauptsache ’s knallt“ versammelt. Aber bis die Demo um 9.30 Uhr losläuft wächst die Menge auf 300-400 Leute an. Luftlinie sind es nur wenige hundert Meter zwischen den parallel verlaufenden Routen von Antifa und Nazis, aber der aufgestaute Flutgraben trennt die beiden Versammlungen. Mittlerweile sind die Übergänge mit Hamburger Gittern und einfachen Polizeiketten dichtgemacht. An der Krämpferstraße gibt es dann auch den ersten Versuch einiger TeilnehmerInnen der Antifa-Demo, auf die Nazi-Route zu kommen. Aber 20 Leute sind für die Polizei kein Problem. Hin und wieder werden Parolen gerufen, dazu erzählt Lothar König viele Dinge aus dem Lautsprecherwagen. War die Demo am Anfang vorwiegend schwarz war, sammelt sie auf ihrem Weg Richtung Bahnhof immer mehr BürgerInnen ein, bis am Ende ein deutlich sichtbarer bunter Block mit den Autonomen demonstriert. Es knallt nicht. Etwas unübersichtlich wird die Lage, als die Demo gegen 11.30 versucht, zur ver.di-Kundgebung in der Tromsdorffstraße zu kommen. Obwohl ver.di laut durchsagt, daß die Antifa auf der Gewerkschafts-Kundgebung ausdrücklich erwünscht ist, stellt die Polizei sich quer. Nach kurzem Gerangel kommt es zu endlosen Verhandlungen — ohne Ergebnis. Ver.di und Antifa dürfen nicht zusammen demonstrieren. Da sich langsam die Gerüchte verdichten, daß die Nazis bald loslaufen, meldet die Antifa eine Spontandemonstration an und macht sich auf, die schon gelaufene Route wieder in der Gegenrichtung abzulaufen.

Seit 7 Uhr sendet das Radio der Thüringer Landesmedienanstalt (Radio Funkwerk) vorproduzierte Interviews. Steffen Lemme von der SPD verzettelt sich und nennt MOBIT die „Mobile Beratung für Demokratie – gegen Gewalt“ statt „.. gegen Rechtsextremismus“. Rüdiger Bender gibt den originellen Rat an Blockaden, einfach mal freiwillig zu gehen, statt sich räumen zu lassen.

Auf der Blockade am Beginn der Nazi-Route läuft bis 11 Uhr Musik aus der Konserve. Matthias Bärwolf von der Partei „Die Linke“ hebt mit kurzen Redebeiträgen die Stimmung und fordert die Leute zu Dableiben auf. Vereinzelte AnwohnerInnen haben sich eingefunden. Die meisten wollen sich zu der Frage, was sie von der ganzen Sache halten, nicht festlegen. Nur ein älterer Herr redet in aller Ausführlichkeit darüber, daß er Blockieren für undemokratisch hält. Er will die TeilnehmerInnen der Blockade überzeugen, zur NPD zu gehen und mit den Nazis zu diskutieren.

Gegen 12 Uhr taucht der Erfurter Oberbürgermeister Andreas Bausewein und die Bürgermeisterin Tamara Thierbach an der Blockade auf. Ungeschickter Weise nehmen sie den Weg durch die Nazi-Kundgebung und werden aus dem Lautsprecherwagen der NPD hämisch als KundgebungsteilnehmerInnen begrüßt. Das widerum bestätigt einige TeilnehmerInnen der Blockade in ihrer sowieso eher ablehnenden Haltung gegenüber der Stadtspitze. Als Bausewein nach einigem Händeschütteln den Ort der Blockade wieder verlässt, meint ein Teilnehmer: „Ich weiß nicht, ob es mich mehr ärgert, daß er wieder geht oder ob es mich mehr geärgert hätte, wenn er sich dazu gesetzt hätte“.

Leipziger Platz
Ein paar Ecken weiter, am Leipziger Platz, beteiligt sich ein anderer Oberbürgermeister an einer Blockade: „Ich werde nächstes Mal dafür sorgen, daß noch mehr Bürgermeister da sind und Ihr werdet dafür sorgen, daß mehr Bürger da sind, denn gemeinsam sind wir stark“ sagt der Jenaer OB Albrecht Schröter. Viele sind begeistert von diesem Bündnis, andere rollen genervt die Augen. Der Lautsprecherwagen dankt den KundgebungsteilnehmerInnen immer wieder dafür, daß sie so bunt, friedlich und entschlossen sind.

Gegen 12:40 wird die Blockade am Beginn der Nazi-Route geräumt. Dabei geht die Polizei verhältnismäßig umsichtig vor. Es gibt keine Verletzten. Ganz anders muß das Vorgehen etwas früher am Talknoten gewesen sein. Eine Aktivistin erzählt mir, daß dort ein Bus mit anreisenden Nazis von vielleicht 50 GegendemonstrantInnen blockiert wurde und eine Polizeieinheit daraufhin „frei gedreht hat“. Die Blockade wurde ohne Vorwarnung brutal von der Straße geprügelt. (Bericht auf Indymedia hier)

Gegen 13 Uhr beginnt die Demonstration der Nazis. Sie rufen „Gegen System und Kapital – unser Kampf ist national“ oder, immer wieder, „Die Straße frei der Deutschen Jugend“. Die Nazis sehen aus, als seien sie zufrieden damit, daß sie endlich laufen dürfen. Aber schon 500 Meter weiter ist schon wieder Schluss, weil sie auf die Blockade am Leipziger Platz treffen. Hier haben sich neben dem Bündnis aus Oberbürgermeister und BürgerInnen auch ca. 200 Kapuzenpullis und Antifa-Fahnen auf der Stauffenbergallee eingefunden. Ein paar AnwohnerInnen beschweren sich über die Unannehmlichkeiten, die sie durch die Demonstrationen und Veranstaltungen haben. Ihnen wäre es lieber, wenn man die Nazis einfach laufen ließe: „Dann wäre der Spuk in einer Stunde vorbei“. Die Nazis nutzen die erzwungene Pause für Redebeiträge. Immer, wenn sich der nationale Lauti anhebt: „Deutsche Männer und Deutsche Frauen ..“ ruft die Kundgebung rythmisch „Halt die Fresse“. Da die beiden Versammlungen durch zwei Reihen Hamburger Gitter, zwei Wasserwerfer (einer in jede Richtung) und unzählige PolizistInnen getrennt sind, hört man das bei den Nazis vermutlich nicht. Aber auf der Kundgebung sorgen die Sprechchöre für gute Laune. Spätestens als nach und nach die TeilnehmerInnen der dahinterliegenden Blockade am Talknoten und die Reste der Antifa-Demo hier eintrudeln, vermuten viele: Hier kommen heute keine Nazis mehr durch.

Das dämmert auch dem nationalen Widerstand. Teile der Demonstration versuchen gegen 14 Uhr durch die Polizeiketten zu brechen. Das gelingt nicht. Aber damit hat die NPD in den folgenden Verhandlungen mit der Versammlungsbehörde schlechte Karten. Auch daß im weiteren Verlauf der Route mittlerweile nicht wenige Hamburger Gitter verschwunden sind oder auseinandergeschraubt wurden, wird die Chancen auf eine erfolgreiche Nazi-Demo eher verringert haben. Nach mehr als einer Stunde verkündet die Polizei das Ergebnis der Verhandlungen: Die Nazis müssen die 500 Meter, die sie vom Bahnhof gelaufen sind, zurücklaufen. Der Versammlungsleiter ist beleidigt und löst um 15.40 von sich aus die Versammlung auf. Er sagt durch, daß er keine Verantwortung für die folgenden Ereignisse übernimmt. Aber die angedeutete Drohung erweist sich als leer. Die VersammlungsteilnehmerInnen bewegen sich geordnet zurück zum Bahnhof. Kurz vor dem Ende versuchen sich einige wenige noch mit einer Sitzblockade, die aber auch nach wenigen Minuten wieder aufgegeben wird. Der Nationale Widerstand Franken und Bayern begibt sich fix zu den Reisebussen, die Thüringer Nazis zum Zug.

Ich spreche am Rande mit ein paar Leuten aus dem Antifa-Spektrum. Die sind nicht sonderlich zufrieden mit dem Tag, fanden alles „zu lasch“. Eine andere sagt, vieles sei heute schlecht koordiniert gewesen. Trotzdem hat einiges funktioniert.

Ganz am Ende muss dann einfach noch die rituelle Randale kommen — schließlich ist heute 1. Mai. Die letzten zehn Nazis brüllen in der Bahnhofsunterführung „Hier marschiert der nationale Widerstand“. Dann wird es unübersichtlich. Die zehn Nazis werden schnell in den Bahnhof geleitet. Gleichzeitig treibt die Polizei die ca. 150 anwesenden GegendemonstrantInnen auf der Bahnhofstraße zusammen — mit Pfefferspray und Knüppel frei. Brutal werden Leute in Gewahrsam genommen. Mindestens vier DemonstrantInnen werden verletzt.

Damit waren die nötigen Bilder im Kasten. Die Polizei zieht sich zurück. „Nach Ende der Neonazi-Demonstration kam es zu Ausschreitungen von Linksradikalen“ kann man jetzt sagen, und fordern, daß das Demonstrationsrecht endlich nicht mehr für Extremisten beider Seiten gilt.

Edit 2. Mai, Zitat vom MDR:

Thüringens Innenminister Peter Huber ist mit dem Polizeieinsatz am Sonnabend in Erfurt zufrieden. Die Versammlungsfreiheit sei gewahrt worden, sagte Huber. Gleichzeitig hätten die Bürger ihre Abneigung gegen jede Form von politischem Extremismus zum Ausdruck bringen können.

In Erfurt laut Stadtordnung verboten: Baumbesetzung am Leipziger Platz
Leipziger Platz

Auf dem Anger: Verschiedene Stände

Hinter dem Leipziger Platz: Wasserwerfer

Am Ende: Gitter einpacken

30.4. in Erfurt: Parkverbot, Planschverbot, Gewaltverbot

Parkverbot
Ein Hinweis für alle AutofahrerInnen: Vom 30. April bis 1. Mai besteht in Erfurt auf der Stauffenbergalle zwischen Bahnhof und Talknoten und auf der gesammten Magdeburger Allee Parkverbot. Auch ein Teil der Friedrich-Engels-Straße ist entsprechend ausgeschildert. Die Ausschilderung passt zumindest zum Anfang der auf „Hauptsache es knallt“ angegebenen Route für die morgige Nazidemo:

Thälmannstraße/Stauffenberg-Allee –> Talknoten –> Magdeburgerallee –> Salinenstraße –> Salzstraße –> Friedrich Engels Straße –> Schlachthofstraße –> Thälmannstraße/Stauffenberg-Allee.

Derweil laufen wie wild die Vorbereitungen für den morgigen Tag. Wie auf Indymedia zu sehen, ist tatsächlich das THW im Einsatz, um zu verhindern, daß man einigermaßen trocken durch den Flutgraben kommt:

Auf dem Anger demonstrieren zurzeit Junge und in die Jahre gekommene Liberale gegen Gewalt und Extremismus: „FÜR GEWALTFREIE STRASSEN AM 1. MAI“.

Ergänzend zum gestrigen Artikel muss man noch anmerken, wie man am 1. Mai von stadtauswärts nicht auf die Magdeburger- oder die Staufenbergalle kommt:

  • Auf jeden Fall sollte man die vorhandenen Hinterhöfe, Industriebrachen, Spielplätze, Gewerbeflächen und Supermarktparkplätze meiden, sondern lieber übersichtliche, große Straßen nutzen.
  • Um an Kontrollpunkten nicht vorbei zu kommen, stellt man sich am besten in einer langen Reihe an und lässt sich nacheinander einen Platzverweis geben. Auf keinen Fall sollte man in die Breite gehen und die Lücken in der Kette suchen, sondern sich im Idealfall allein auf die BeamtInnen konzentrieren. Gerade wenn man in der Überzahl ist, ist das unbedingt zu beachten.

Wie man am 1. Mai in Erfurt nicht den Flutgraben überquert

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Erfolg der Aktivitäten gegen die Nazis am 1. Mai in Erfurt davon abhängt, daß es vielen Leuten gelingt, stadtauswärts den Flutgraben zu überqueren. Es gibt verschiedene beliebte Strategien, das nicht zu schaffen.

1. Die authentische autonome Kleingruppe
Vier bis sechs in der Regel männliche Jugendliche oder junge Erwachsene kleiden sich komplett schwarz, ziehen Sonnenbrillen und Halstücher an und versuchen in der Gruppe, unauffällig an der Polizeikette auf der Brücke vorbei zu kommen. Von der Polizei abgewiesen, regen sie sich über den Scheiß-Bullenstaat auf und ziehen sich beleidigt in Richtung Innenstadt zurück, wo sie auf die VertreterInnen von Variante 2 treffen.

2. Die Zeichensetzer
200-500 wohlmeinende Gutmenschen sammeln sich mit Sambatrommeln und Jonglierbällen zu einer Kundgebung oder Blockade auf der falschen Seite des Flutgrabens. Während die Nazis die Staufenbergallee oder die Thälmannstraße entlang laufen, bestätigen sich die DemonstrantInnen gegenseitig, daß sie die Guten sind und ein unübersehbares Zeichen gegen rechts setzen. Sollte es irgendwann zu vielen Menschen auffallen, daß die Blockade an diesem Ort gar nichts bringt, bewegt man sich zu der Brücke, an der schon die Autonomen gescheitert sind.

3. Die falsche Brücke
Wenn die Nazis auf der Staufenbergallee laufen, erschließt sich selbst dem dümmsten Polizisten, daß die Brücken am Krämpferufer und Schmittstädter Ufer dicht gemacht werden müssen. Um also nicht über den Flutgraben zu kommen, muss man sich genau auf diese Brücken konzentrieren. Auch sollte man sich vorher keine Gedanken darüber machen, wie und wo man anders über’s Wasser kommt — z.B. westlich des Bahnhofs oder nördlich der Schlüterstraße. Auch sollte man keinen Netzplan der EVAG, keine Karte und kein Fahrrad dabei haben.

4. Das starre Konzept

Man kann den Flutgraben auch nicht überqueren, weil das Plenum, der Aktionsrat, der Bürgertisch oder eine andere Autorität im Voraus beschlossen hat, dies nicht zu tun. Dieser Anweisung sollte man Folge leisten und nicht spontan entscheiden, daß aufgrund veränderter Bedingungen ein ganz anderer Ort zu besetzen wäre. Um damit glücklich zu sein, sollte man sich eher nicht über den Ticker (http://ticker.hopto.org), das Infotelefon (0162 – 59 19 379) oder Radio F.R.E.I. (UKW 96,2) über die aktuelle Lage informieren. Unterstützt wird diese Variante des Scheiterns durch diejenigen FunktionärInnen des Protests, die davon überzeugt sind, daß einfache AktivistInnen sowieso nicht qualifiziert sind, mit Informationen umzugehen und diese deswegen für sich behalten. Manche derer, die das besonders stört, gehen am 1. Mai dem virtuellen Ansatz nach.

5. Der Virtuelle Ansatz
Um ganz genau darüber informiert zu sein, wie man hätte den Flutgraben überqueren können, es aber gleichzeitig zu unterlassen, setzen sich die Anhänger dieses Ansatzes am 1. Mai alleine vor den heimischen PC und verfolgen im Minutentakt Tickermeldungen, Webseiten, Radio F.R.E.I. und MDR. Mit allen Informationen ausgerüstet, entfalten sie ihre Revolutionäre Praxis in den Kommentaren auf Indymedia und in Blogbeiträgen, die brilliant alle Fehler nachweisen, die auf der Straße begangen werden.

6. Die Fotogene Strategie
Die Fotogene Strategie, nicht den Flutgraben zu überqueren, wird vor allem von PolitikerInnen der höheren Ränge verfolgt. Die nutzen den Tag, um Gesicht zu zeigen, konkret: das eigene Gesicht zu zeigen und in möglichst viele Mikrofone zu blubbern. Vereinzelt wird die Fotogene Strategie auch von Autonomen Kleingruppen verfolgt. Hier versucht man — anders als die PolitikerInnen — in den Augen des Virtuellen Ansatz (siehe oben) eine gute Figur zu machen.

7. Der Mehrheits-Ansatz

Die Mehrheit der Erfurter BürgerInnen wird am 1. Mai den Flutgraben deswegen nicht überqueren, weil es ihnen aus den verschiedensten Gründen scheißegal ist, daß die Nazis demonstrieren.

1. Mai: Seit 124 Jahren auch gegen die Arbeit

Gegen die Arbeit - schon 1931

Im Mai 1886 fanden in Chicago die Haymarket Riots statt. Aus Widerstand gegen elende Arbeitsbedingungen kam es zu einem mehrtägigen Streik, der auch auf der Straße ausgefochten wurden. Am 4. Mai explodierte bei einer Demonstration eine Bombe. Dafür verurteilt und größtenteils hingerichtet wurden acht Anarchisten, die den Streik organisiert hatten. Das Gericht konnte ihnen zwar nicht nachweisen, daß sie die Bombe gelegt hatten, befand sie aber der intellektuellen Täterschaft schuldig.

Vier Jahre später wurde auf einem Arbeiterkongress in Paris beschlossen, den 1. Mai als internationalen Kampftag der Arbeiterklasse auszurufen. Wieviel Aufmerksamkeit an diesem Tag auf „Kampf“, wieviel auf „Klasse“ und wieviel auf „Arbeit“ liegt, ist umstritten.

1890 ging es um kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen. Für KommunistInnen wurde der Tag in den Jahren danach ein Tag des Klassenkampfes. Im Nationalsozialismus wandelte er sich zum „Feiertag der nationalen Arbeit“. In der DDR fanden Militärparaden statt, dazu wurde die Arbeiterklasse verpflichtet, an Tribühnen mit Parteiprominenz vorbei zu flanieren. In der BRD rief die Gewerkschaft nach klassenkämpferischen Anfängen später immer mehr zum gemeinsamen Bratwursessen oder gleich zum Maispaziergang im Grünen auf. In Berlin findet seit dem 1. Mai 1987 rituelle Randale statt. Die Nazis beziehen sich seit Mitte der 1990er-Jahre erneut auf den Tag und versuchen mit wechselndem Erfolg, Aufmärsche durchzusetzen.

„Tag der Arbeit“ ist heute eine gängige Bezeichnung für den 1. Mai. Aber die Arbeiterklasse stand nie so eindeutig auf der Seite der Arbeit, wie das manche gerne hätten. Für diejenigen, die 1886 demonstriert haben, war Arbeit eine bittere Notwendigkeit, die ihnen das Leben zur Hölle gemacht hat. Und auch später war vielen bewusst, daß Arbeit viel mehr ein Zwangsinstrument als ein Vehikel zur Befreiung ist. Wie den Arbeitern auf dem Bild: Sie demonstrierten 1931 gegen den freiwilligen Arbeitsdienst — die damalige Variante des 1-€-Jobs.

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