Bei Nebel, gefühlten -10°C und völlig übermüdet erreichen wir am Sonntag Morgen gegen 3:00 Uhr das Camp in Köhlingen. Wir wollen uns an der Aktion „Castor? Schottern!“ beteiligen. Ein Teil unserer Bezugsgruppe ist bereits seit Freitag im Wendland. Wir werden am Eingang des Camps abgeholt und bekommen an einer Feuertonne eine Einweisung in das Camp und in die geplante Aktion. Für in der Nacht Ankommende steht ein großes Zirkuszelt als Schlafplatz zur Verfügung. Wir klettern über Beine und Arme bereits schlafender Aktivist_innen, bauen uns ein kleines Lager und legen uns hin. Es ist kalt. Um 5.00 Uhr werden wir durch das Castorradio und grelles Licht geweckt. Es geht alles ganz schnell. Aufstehen, Kaffee trinken, etwas Essen und an der Feuertonne wärmen. Ein Teil unserer Bezugsgruppe schneidet sich aus einer alten Isomatte einige Protektoren zum Schutz vor angreifenden Bullen. Der Platz füllt sich mit Leuten. Wir packen Essen und Trinken, eine Augenspülflasche gegen Reizgase und Klamotten zusammen. Dann geht es los.
Auf zum Schottern
Ca. 1500 Leute, organisiert in vier Fingern, machen sich auf in Richtung der Gleise. Parallel starten aus einem weiteren Camp ungefähr genauso viele Menschen. Wir laufen im ersten Finger und folgen einer rot-weißen Fahne. Der Weg ist lang (ca. 10km) und führt durch den Wald, über Feldwege, kleine Straßen und Felder. Agent Provocateurs versuchen die Stimmung durch singen des „Körperzellensongs“ anzuheizen. Am Rand werden wir immer wieder von Einheimischen freundlich gegrüßt. Nach einer ganzen Weile stößt ein Trupp Bullen mit Helmen zu uns. Bei dem ersten Kontakt mit der Staatsmacht fällt diese durch provokantes Verhalten und Schubsen auf. Versuche, die vielen Leute aufzuhalten scheitern kläglich. Das Gelände ist viel zu weitläufig. Es gibt immer einen Weg die Bullenreihe zu umlaufen. Auch der Versuch, die Fingerspitze mit den Fahnen von allen anderen zu isolieren, funktioniert nicht. Blitzartig dreht sich der gesamte Finger einfach um und läuft in eine andere Richtung.
Wir sammeln uns auf einer großen Wiese. Dass das Gleis nicht mehr weit entfernt ist, erfahren wir erst als wir dort sind. Die anderen Finger, die einen anderen Weg nahmen, stoßen wieder zu uns. Es gibt etwas warmes zu essen von einer mobilen KüFA (dort „Vokü“). Kalt ist es trotzdem.
Wir gehen weiter durch den Wald. Weitere Versuche von den uns begleitenden Bullen uns aufzuhalten, gibt es nicht. Sie laufen nur mit uns mit. Von weitem sehen wir zwei hintereinander stehende enge Bullenketten, die von als Blockade aufgestellten Polizei-Wannen unterstützt wird. Allen ist klar, dass hinter den Bullen das Gleis sein muss. Entschlossen gehen wir auf die Bullen zu. Die ersten Reihen werden mit Schlägen und Pfefferspray „empfangen“. Die Bullen prügeln auf alles ein, was ihnen auch nur ein Stück zu nahe kommt. Wie abgesprochen brechen die Leute nach links und rechts aus um die Bullen auseinander zu ziehen und wenn möglich durch die entstehenden Lücken auf die Schienen zu kommen. Als ein paar Cops das unterbinden wollen und eine lose Kette in den Wald ziehen, brechen wir aus und durchfließen die neue Kette erfolgreich. Die Bullen gehen zurück zu den Schienen. Bei einem Sprung über einen kleinen Graben verletzt sich eine Person unserer Bezugsgruppe am Knöchel. Damit sind wir erstmal out of action. Wir ziehen uns ein kleines Stück zurück. Während sich ein Sani um den Knöchel kümmert, beobachten wir das weitere Geschehen. Es kommen immer mehr Menschen aus dem Wald. Immer wieder wird versucht durch die Bullenkette durchzubrechen. Die Antwort lautet jedes mal Schläge und Pfeffer. Um uns herum werden vermehrt Augen ausgespült und Verletzte versorgt. Es werden Pyros gezündet. Immer wieder hört man Schreie und Parolen. Plötzlich bricht lauter Jubel aus. Wir gehen ein Stück weiter vor und sehen, dass von der anderen Seite der Schienen einige hundert Leute auf die Gleise drängen und mit Schottern beginnen. Doch schnell kommen Riot Cops angerannt und prügeln mit äußerster Brutalität auf die Leute ein. Voller Staunen und Respekt beobachten wir, dass sich diese nicht so einfach vertreiben lassen. Effektives Schottern gelingt an dieser Stelle aber trotzdem nicht. Die Leute werden wieder zurück in den Wald getrieben. Später beobachten wir, dass sogar Wasserwerfer eingesetzt werden um die Leute in den Wald zu drängen.
Die verletzte Person aus unserer Bezugsgruppe ist nicht mehr dazu in der Lage zu laufen. Wir trennen uns. Eine Person geht mit der verletzten Person zurück ins Camp. Wir anderen machen weiter.
Längere Zeit laufen wir mal mit mehr und mal mit weniger Leuten entlang der Bullenkette durch den Wald. Unser Ziel ist, die Bullenkette weiter auseinander zu ziehen und die Bullen zu beschäftigen, damit andere besser agieren können. Auf den Waldwegen, die auch die Bullen benutzen, werden immer wieder Barrikaden gebaut. Irgendwann stoßen wir auf eine größere Gruppe von Leuten, die sich gerade zurückziehen will. Wir schließen uns an.
Der zweite Anlauf
Der Sammelpunkt ist eine größere Lichtung auf einem Hügel im Wald. Es ist Zeit zum Ausruhen und die durchgeschwitzten Klamotten zu wechseln. Eine mobile KüFA versorgt uns mit Kaffee und Tee. Auf einem Deliplenum wird diskutiert wie es weiter geht. Wir sind etwas deprimiert weil wir es noch nicht einmal bis auf die Schienen geschafft haben. Vom Schottern ganz zu schweigen. Nach gut einer Stunde Pause geht es wieder los. Auch die Leute auf der anderen Seite der Schienen haben sich zurückgezogen und diskutiert, wie sie weiter machen wollen. Sie wollen erneut versuchen auf die Schienen zu kommen. Auf unserem Deliplenum wurde entschieden, dies zu unterstützen indem wir Bullen beschäftigen. Wir formieren uns. Unsere Bezugsgruppe hat sich dazu entschlossen, an der Seite Schutz zu machen. Als wir losgehen bemerken wir, dass wir an die 1000 Leute sind. Die Stimmung bessert sich. Es werden Parolen gerufen. Ungestört laufen wir eine ganze Weile durch den Wald. Wir biegen ab. Plötzlich sehen wir aus etwa 100m Entfernung die Schiene – und weit und breit keine Bullen. Ein „pssssst“ geht durch die Reihen. 1000 Leute stehen ohne ein Geräusch zu machen auf einem Feldweg im Wald. Die Spannung ist groß. Dann geht es los. Die Leute rennen auf die Schienen und beginnen sofort mit dem Schottern. Am Rand stehen vereinzelt zwei Cops, die versuchen Leute von der Schiene zu zerren. Wir schieben uns mit unserer Plane dazwischen und haben keine Probleme die Bullen weg zu drängen. Nach einiger Zeit kommt ein großer Pulk Bullen mit gezogenen Schlagstöcken auf uns zu gerannt. Wir rennen zurück in den Wald. Es kommt zu kleineren Auseinandersetzungen. Als die meisten zurück im schützenden Wald sind, bricht Euphorie aus. Wir haben geschottert! Schnell bewegen sich die Leute weiter entlang der Schiene im Wald. Nach ein paar hundert Metern rennen hunderte Leute von der anderen Seite der Schiene auf das Gleis. Das ist die Chance. Auch wir rennen auf das Gleis. Es wird in großem Stil auf mehreren hundert Metern geschottert. Etwa zwei Hundertschaften Bullen sind zu wenig für ca. 2000 Aktivist_innen. Es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen. Nachdem wir bisher nur gesehen haben, wie Leute von den Bullen verprügelt werden, ist es ein Vergnügen mit anzusehen, wie sich am Rand ein paar Leute erfolgreich gegen die Bullen zur Wehr setzen. Danke dafür!
Trotz brutalem Schlagstock- und Pfeffersprayeinsatz schaffen es die Bullen lange Zeit nicht die Schienen frei zu prügeln. Immer wieder gelingt es, die Bullen weg zu schieben und in größeren Gruppen auf die Schienen zu kommen und zu schottern. Es kommt zu unzähligen Verletzten. Die anwesenden Sanis sind im Dauereinsatz. An dieser Stelle auch ein großes Dankeschön an euch! Ihr habt großartiges geleistet! Auf dem Waldweg, der neben der Schiene verläuft, kommen von der einen Seite eine große Anzahl Wannen und von der anderen ein Räumpanzer angefahren. Es werden Barrikaden gebaut. Die Fahrzeuge bleiben in größerer Entfernung stehen. Nach längerer Zeit haben die Bullen dann doch das Gleis frei geprügelt. Wir ziehen uns ein Stück zurück und ruhen aus. Um uns herum werden wieder zahlreiche Verletzte versorgt.
Mittlerweile ist es gegen 15.00 Uhr. In einem Deliplenum wird darüber diskutiert, wie es weitergeht. Da die „Castor? Schottern!“-Aktion nur tagsüber stattfinden soll, wird damit begonnen, vom Camp aus ein Shuttle-Service zu organisieren. Wir entscheiden uns dazu, zurück zum Camp zu fahren und laufen los in Richtung der Straße, wo wir abgeholt werden. Auf dem Weg werden immer wieder kleinere Barrikaden gebaut. Mehrere Transporthubschrauber der Polizei kreisen über uns. An der Straße angekommen werden wir relativ bald abgeholt und ins Camp gefahren. Dort angekommen ist erstmal Umziehen, Ausruhen und Aufwärmen angesagt. Es gibt warmen Tee, leckeres Essen und Feuertonnen.
Was sonst noch so war
Um 19.00 Uhr ist Camp-Plenum. Die Aktion wird kurz ausgewertet und vorgestellt, welche weiteren Aktionen geplant sind beziehungsweise gerade laufen. Über 150m wurden erfolgreich geschottert! Später in der Nacht gelang es einigen hundert Leuten erneut über 50 Meter erfolgreich zu schottern. Erst als wir wieder zu Hause sind, erfahren wir, dass ein extra aus Lüneburg heran gekarrter Reparaturzug die Schienenstücke wieder befahrbar machen musste. Der Castor steht mittlerweile bei Dahlenburg vor einer Sitzblockade mit mehreren tausend Menschen und wurde mit Stacheldraht umzäunt.
Wir entschließen uns dazu in das Camp der Bäuerlichen Notgemeinschaft nach Gusborn zu fahren. Auf dem Weg dahin treffen wir auf eine Treckerblockade von örtlichen Bauern auf einem Kreisverkehr. Freundlich werden wir durch die Blockade hindurch gelotst. Weniger freundlich sind die Polizist_innen, die uns und unsere Autos an einer Straßensperre kurz vor Gusborn kontrollieren. Rucksäcke und Autos werden kurz durchleuchtet und unsere Personalien kontrolliert. Weil wir so unkooperativ sind, bekommen wir unsere Ausweise erst dann wieder, wenn wir ihnen zeigen wo wir hin fahren. Mit einem Bullenauto im Rücken fahren wir dann also los. In Gusborn angekommen, bekommen wir unsere Ausweise dann auch tatsächlich wieder. Doch die eigentliche Schikane fängt jetzt erst an. Weil das Camp auf der Karte, die wir haben, falsch eingezeichnet ist, fahren wir an den Rand um uns neu zu orientieren. Kurze Zeit später klopfen ein paar Bullen an unser Fenster und fragen wo wir denn hin wollen. Auch hier zeigen wir uns unkooperativ und sagen nichts dazu. Das nehmen diese jedoch zum Anlass, der Fahrerin des Autos zu unterstellen, Drogen genommen zu haben. Also werden wir erneut durchsucht. Diesmal aber wesentlich gründlicher. Alle im Rucksack befindlichen Gegenstände werden einzeln begutachtet. Jede Ritze des Autos wird genauestens untersucht. Unsere Körper werden abgetastet. Mit der Fahrerin werden alberne Tests gemacht. Auch etwas Urin wollen sie haben. Nach etwa zwei Stunden war die Kontrolle dann vorbei. Gefunden haben sie nichts. Gar nichts. Gegen 2.00 Uhr erreichen wir das Camp und legen uns baldig schlafen. Auch diese Nacht wird leider viel zu kalt.
Am nächsten Morgen erfahren wir, dass der Zug um 9:30 Uhr in die Verladestation in Dannenberg eingefahren ist. Die ganze Nacht über wurde die Sitzblockade geräumt und die geschotterten Stellen repariert. Da die Verladung der Castorbehälter bis zu 12 Stunden dauern kann, lassen wir den Tag ruhig angehen. Wir sitzen an einer Feuertonne, hören das Castorradio und genießen die großartige KüFA der Bäuerlichen Notgemeinschaft. Aufgeheitert werden wir immer wieder durch Leute, die beim Radio anrufen und so Sachen sagen wie „Hallo, ich bin eine Schäferin und stehe hier gerade mit ca. 1200 Schafen und ein paar hundert Ziegen auf der Castorstrecke“ oder eine Frau, die sich bei den Leuten bedankt, die den Räumpanzer angezündet haben, weil sie kurz vorher gesehen hat wie die Bullen total brutal Leute verprügelt haben. Auch ein Kettensägenkonzert im Wald wurde angekündigt.
Am Nachmittag gehen wir nach Splietau. Eigentlich wollen wir dort an einer Kundgebung teilnehmen. Dort angekommen erfahren wir, dass die Kundgebung schon aufgelöst ist. Etwas deprimiert wärmen wir uns an einer Feuertonne und essen etwas aus der KüFA im dortigen Camp. Als es dunkel wird entscheiden wir uns dazu, doch heute noch nach Hause zu fahren. Wir sind alle völlig übermüdet und total durchgefroren. Wieder in Gusborn angekommen, packen wir zusammen und fahren los. Als wir die erste Treckerblockade erreichen, glauben wir heute nicht mehr aus dem Wendland raus zu kommen. Praktisch das gesamte Wendland wurde durch Trecker- und Materialblockaden stillgelegt. Glücklicherweise treffen wir einen, der sich auskennt, und uns eine genaue Beschreibung gibt, wie wir hier raus kommen. Wir fahren über Schleichwege, Spielplätze und an zig Treckern vorbei. Und kommen dann gegen 3.00 Uhr wohlbehütet zu Hause an.
Der Protest gegen Atomkraft und gegen den Castortransport war 2010 größer denn je. Der Transport dauerte über 92 Stunden. So lange wie noch nie. Die Größe und Breite des Widerstands ist beeindruckend, der Rückhalt in der Bevölkerung ist enorm. Auch aktionistisch gibt es in der Bevölkerung eine breite Akzeptanz für Aktionen, die die Grenzen der Legalität überschreiten. Materialblockaden, Straßenunterhöhlen und Schottern gehören dazu und werden so gut es geht unterstützt. Es ist selbstverständlich, dass Bauern mit ihren Traktoren den Bullennachschub blockieren. Diese agieren dabei wie autonome Kleingruppen, ohne sich selbst als solche zu verstehen.
Im Gegenzug dazu sind für viele in der thüringischen Provinz selbst einfache Sitzblockaden oft schon zu radikal. Die Proteste im Wendland machen Mut und geben Kraft. Sie zeigen was möglich ist und verweisen darauf, dass noch viel mehr möglich sein kann.
Ausführliche Berichte zum diesjährigen Widerstand gegen den Castortransport gibt es bei Indymedia.